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Die Bedeutung der Höhlen
in der Entwicklung des Heinrich von Ofterdingen

Betrachtungen zu einem Roman von Novalis

© Christel Baumgart 2023



Romantisierung der Welt

Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen erschien im Jahre 1802, ein Jahr nach dem frühen Tod des Dichters. Der Roman kann als Reaktion auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) im Sinne eines Gegenstückes aufgefasst werden. Wilhelm Meister schien Novalis zu sehr auf ein äußerliches Vorankommen des Helden zu zielen. Ihm selbst lag mehr an der Veranschaulichung eines inneren Weges zur Vervollkommnung der Person. Der Weg der inneren Betrachtung ist für ihn der wahre Weg, der den Menschen reifen und Erfüllung finden lässt.

Heinrich von Ofterdingen war das erste von sieben geplanten Werken, die jeweils ein Gebiet nach dem Verfahren des „Magischen Idealismus“ romantisieren sollten. Als Themen vorgesehen waren noch Physik, Gesellschaft, Geschichte, Handel, Politik und Liebe. Novalis' Theorie besagt, dass die Philosophie als Wissenschaft aller Wissenschaften Natur und Geist verbinde. Sie sei der Trieb ins Ideale, der zugleich Heimkehr ins Ursprüngliche sei. Novalis zeigt sich als ein Grenzgänger zwischen Naturphilosophie, Religionsphilosophie und Ästhetik. Er sah die Aufgabe des Dichters darin, in der Natur die „chiffrierten“ Zeichen des Überirdischen zu lesen und so Wissenschaft und Natur zu verbinden. Der Dichter wird zum Magier, der durch seine Dichtung die Welt zu einem Produkt der Einbildungskraft macht, sie poetisiert. Er ‚erlöst‘ die Natur und führt schließlich eine Synthese von Natur, Geist und Seele, von Endlichem und Unendlichem herbei.

Novalis bezeichnete das Romantisieren als eine transzendentale Operation des Bewusstseins, das die Dinge mit dem Zauberstab der Analogie berührt. Auf der Suche nach dem Entwurf der Welt entwickelte er die Idee des „absoluten“ Buches im Sinne eines „unendlichen Romans“. Er behauptet ein Paradies, ein goldenes Zeitalter, in dem Mensch und Natur noch eine Einheit bilden. Diese kann durch das Romantisieren der Welt, d.h. durch das Transzendieren des Poetischen, zurückerlangt werden. In Heinrich von Ofterdingen wird diese Theorie angewendet.

Aufbau des Romans

Der Roman besteht aus zwei Teilen, deren erster etwa den vierfachen Umfang des zweiten hat. Der erste Teil trägt die Überschrift „Die Erwartung“. Die neun Kapitel sind nummeriert. Vorangestellt sind unter der Überschrift „Zueignung“ zwei Sonette, in denen die Geliebte mit der Muse der Poesie gleichgesetzt wird. Der erste Teil endet mit einem Vierzeiler, der vom harmonischen Dasein nach dem Ende von Streit und Schmerzen erzählt.

Der zweite Teil, „Die Erfüllung“, ist überschrieben „Das Kloster oder der Vorhof“ und beginnt mit dem mehrseitigen Gedicht „Astralis“. Dieser zweite Teil blieb unvollendet. Ludwig Tieck, den eine enge Freundschaft mit Novalis verband, ergänzte den hinterlassenen Teil anhand der ihm bekannten Gedanken und Aufzeichnungen nach dem Tod des Dichters.

Der auf Vollendung, Erfüllung angelegte Roman musste also ein Fragment bleiben. Welch ein Widerspruch! Während der erste Teil, wie noch zu zeigen sein wird, den Werdegang Heinrichs vom unbestimmt Sehenden zum Dichter beschreibt, sollte der zweite Teil, der metaphysische, aufzeigen, wie durch die Poesie schließlich eine Synthese von Natur, Geist und Seele herbeigeführt wird, die selbst den Tod mit einbezieht.

Ich werde mich im Folgenden nur mit dem ersten Teil befassen und u.a. aufzeigen, welchen Einflüssen Heinrich auf seinem Lebensweg ausgesetzt war.

Bei der Hauptfigur, dem jungen Heinrich von Ofterdingen, handelt es sich um eine sagenhafte Gestalt, einen Minnesänger des 13. Jahrhunderts. Der Name taucht erstmals in der Dichtung Der Singerkriec ûf Wartburc (um 1260) auf, wo Heinrich im Wettkampf gegen Wolfram von Eschenbach unterlag, obwohl ihm der Zauberer Klingsohr zur Seite stand.

Klingsohr begegnet uns bei Novalis als weiser Förderer Heinrichs, als ein reifer Dichter, der Heinrich seine Kunst lehrt. Die Verwendung einer mythischen Figur passt ausgezeichnet zu den Absichten Novalis'. Die Verwebung von Vergangenem, Mythischem, Realem, Gegenwärtigem und Zukünftigem ist ein wesentliches Merkmal des Romans.

Die Reise

Heinrich bricht von Eisenach mit seiner Mutter und einigen Kaufleuten zu einer Reise auf, um in Augsburg den Großvater zu besuchen. Dabei geht die Initiative von der Mutter aus, die dem Großvater den inzwischen zwanzigjährigen Enkel vorstellen möchte und gleichzeitig den in letzter Zeit allzu stillen Heinrich aufmuntern will. Es werden Stationen der Reise beschrieben und das Zusammentreffen mit verschiedenen Menschen unterwegs. Heinrich nimmt alle neuen Eindrücke begierig in sich auf und lauscht besonders den Erzählungen und Liedern.

In Augsburg beim Großvater angekommen, macht er die Bekanntschaft Klingsohrs und gewinnt das Herz Mathildes, der Tochter des Dichters. Alle Ereignisse dienen dazu, dass Heinrich seine Berufung zum Dichter erkennt und zur persönlichen Reife gelangt.

In der Kette der Ereignisse und Geschichten, denen Heinrich während seiner Reise begegnet, nehmen Höhlen einen wichtigen Platz ein. Deren Einfluss auf die Entwicklung des werdenden Dichters möchte ich im Folgenden näher untersuchen.

Die Höhlen

Die Höhle im Traum von der blauen Blume

Am Beginn des Romans begegnet uns Heinrich als schlafloser Jüngling, der, als alles schon schläft, den Erzählungen eines Fremden nachsinnt und eine starke Sehnsucht nach dem Anblick der blauen Blume, von der dieser wohl sprach, in sich verspürt. Schließlich fällt er in einen unruhigen, traumreichen Schlaf. Erst gegen Morgen wird es ruhiger in ihm. Er träumt nun von einer schönen Landschaft, durch die er geht und gelangt durch einen in den Fels gehauenen Gang in eine große Höhle. In der Höhle, deren feuchte Wände kühl sind und ein mattes, bläuliches Licht von sich geben, steigt aus einem Becken ein Strahl „wie entzündetes Gold“ (Hch S. 64) in die Höhe. Heinrich fühlt sich von dem Becken unwiderstehlich angezogen und badet schließlich darin. Das löst eine Welle von starken Empfindungen in ihm aus, die von „himmlisch“ bis zu „Wollust“ reichen. Er überlässt sich ganz den Eindrücken, schwimmt mit dem Strome hinaus ans Tageslicht, wo er direkt neben der Quelle die blaue Blume findet und entzückt ihrer Verwandlung zusieht: Sie wächst, ihre Blätter beginnen zu glänzen, sie wendet sich ihm zu und in den Blütenblättern sieht er ein zartes Gesicht schweben. In diesem Augenblick wird er von seiner Mutter geweckt.

Die Höhle im Traum des Vaters

Heinrichs Vater hält nichts von Träumen und lehnt deren Deutung ab: „In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt“ (Hch,S. 66). Doch Heinrichs begeisterte Rede erinnert ihn an seine Jugend, einen Aufenthalt in Rom und die Hochzeit mit Heinrichs Mutter. An einen Traum, den er damals hatte, und der ihn erst auf den Gedanken brachte, nach Augsburg zurückzukehren und um seine Liebste zu werben, muss ihn seine Frau erst wieder erinnern.

Der Vater erzählt, wie er damals in Rom bei einem alten Manne einkehrte und an einem langen Abend Wundersames erfuhr von alten Zeiten, von Malern, Bildhauern und Dichtern. Er verbrachte die Nacht im Haus des Alten und träumte: Er wanderte aus seiner Vaterstadt Eisenach hinaus bis in den Harz. Dabei verspürte er eine heftige, aber unbestimmte Sehnsucht in seinem Innern. Ihm war, als wäre er unterwegs, um eine Aufgabe zu übernehmen.

Er gelangte schließlich über eine Stiege in eine große Höhle, tief im Fels. Dort traf er auf einen Greis in einem langen Kleide, der an einem eisernen Tische saß und ein Mädchen, aus Marmor gehauen, ansah. Sein Bart war durch den Tisch gewachsen. Da erschien plötzlich der alte Mann, bei dem der Vater gerade nächtigte, und führte ihn wieder ans Tageslicht. Er sah hier in einer fremden Landschaft Bäume mit glänzenden Blättern, Quellen überall und Blumen. Dabei fiel ihm eine der Blumen besonders auf. Ob sie blau war, wie Heinrich erregt wissen will, kann er nicht mehr sagen und misst der Frage auch keine Bedeutung bei.

Die Höhle in der Erzählung der Kaufleute

Bereits nach einigen Tagen haben die Kaufleute, die viel herumgekommen sind, vieles erlebt und viele Geschichten gehört haben, erkannt, dass Heinrich das Zeug zu einem Dichter hat. Er ist begierig auf die langen Gespräche mit ihnen und lernt Lieder und Sagen kennen. Eines Abends erzählen die Kaufleute ein Märchen, das im untergegangen Atlantis angesiedelt ist:

Ein alter verwitweter König hatte eine Tochter, die er sehr liebte. Er hegte eine Leidenschaft für die Dichtkunst und zog viele ihrer Meister an seinen Hof. Die Prinzessin lernte auf einem ihrer einsamen Ausritte einen ernsten jungen Mann kennen, der mit seinem Vater ein abgelegenes Landgut bewohnte. Sie verliebten sich, ohne dass er um ihre Herkunft wusste. Bei einem gemeinsamen Spaziergang wurden sie von einem Sturm überrascht, kamen vom Wege ab und fanden Zuflucht in einer Höhle. In dieser Nacht gaben die beiden Liebenden erstmals ihrer Leidenschaft nach, „Unter dem Brautgesange des Sturms und den Hochzeitsfackeln der Blitze“ (Hch, S. 93). Sie gab sich am anderen Morgen zu erkennen und zeigte sich bekümmert wegen des Stolzes ihres Vaters. Der junge Mann hatte eine Idee, die er mit Hilfe seines Vaters verwirklichte: Die Prinzessin fand Unterschlupf in einigen unterirdischen Zimmern im Hause der beiden. Nach einem Jahr ging das junge Paar mit dem inzwischen geborenen Kinde an den Königshof und wurde von dem einsamen König glücklich aufgenommen, nachdem die Lieder des jungen Mannes alle verzaubert hatten.

Die Höhlen auf dem Weg zum Buch

Nur wenige Tagesreisen vor Augsburg lernt Heinrich abends in einer Dorfgaststätte einen alten Mann kennen, den die Leute den Schatzgräber nennen. Dieser erzählt, wie ihn schon von Jugend auf die Geheimnisse der Berge fasziniert haben und er sich auf den Rat eines Reisenden hin nach Böhmen aufgemacht habe, um Bergmann zu werden. Er spricht über seine Ergriffenheit beim ersten Abstieg mit dem Steiger in die Tiefe und wie ihn der Anblick des Inneren der Berge gefesselt habe.

Der alte Schatzgräber möchte gerne die Höhlen in der Umgebung des Dorfes erkunden. Heinrich, die Kaufleute, Bauern aus dem Dorf sowie ein interessierter Bauernjunge begleiten ihn. Es ist eine Vollmondnacht.

Sie betreten mit Fackeln einen Einstieg und gelangen bald in eine Höhle, deren Boden mit Knochen und Zähnen übersät ist, „Überbleibsel einer uralten Zeit“ (Hch, S. 125). Die Bauern gruseln sich und kehren wieder um.

Heinrich, der Junge und die Kaufleute gehen mit dem Alten weiter, bis sie in eine zweite Höhle gelangen, die der ersten gleicht. Hier findet der Alte die frische Spur eines Menschen auf dem Boden. Gerade als sie sich entschlossen haben, dieser Spur zu folgen, vernehmen sie aus ferner Tiefe einen Gesang. Sie suchen und finden einen Gang dorthin und treffen in einer geräumigen Höhle auf einen Mann unbestimmbaren Alters, der vor einer steinernen Platte, auf der ein Buch liegt, sitzt. Dieser begrüßt die Ankommenden auf das freundschaftlichste. Es stellt sich heraus, dass er ein Graf von Hohenzollern ist, der hier im Anschluss an ein abenteuerreiches Ritterleben nach dem Tod seiner beiden Kinder und seiner geliebten Frau Marie seit Jahren als Einsiedler sein Leben zubringt.

Heinrich ist fasziniert von den vielen alten Büchern, die sich in der Höhle befinden. Der alte Schatzgräber, die Kaufleute und der Bauernjunge sind interessiert daran, weitere Höhlen, von denen der Einsiedler spricht, kennenzulernen. Der Einsiedler, dem Heinrichs Faszination durch die Bücher nicht verborgen bleibt, erlaubt diesem, während er die anderen weiter in den Berg führt, in der Höhle zu bleiben und alles anzuschauen.

Allein gelassen findet Heinrich ein ganz besonderes Buch, in dem er sich selbst und Personen, die ihm bekannt, aber auch solche, die ihm nur auf eine geheimnisvolle Weise vertraut erscheinen, erblickt.

Die Bedeutung der Höhlen

Träume, Erzählungen, Erlebnis

Welche Auswirkungen haben all diese Erlebnisse auf den jungen Heinrich? Worin ähneln sich alle diese Höhlengeschichten? Inwiefern unterscheiden sie sich voneinander? In welchem Zusammenhang stehen die Höhlen mit dem Roman als Ganzem? Es fällt auf, dass jedesmal, wenn von Höhlen gesprochen wird, zuvor durch Gespräche oder Erzählungen eine gewisse Stimmung erzeugt worden ist, die besonders empfänglich macht für neuartige und ungewohnte Eindrücke.

So ist es auch bei Heinrichs erstem Höhlenerlebnis. Er hat eine unruhige Nacht verbracht, weil ihn die Worte eines Fremden aufgewühlt hatten. Der Fremde, so scheint es, hat ihm die Sinne und Gedanken geöffnet für eine Welt, die ihm bis dahin nicht bewusst war. Heinrich erfährt sich als einen ganz besonderen Menschen. Er bemerkt, dass die Reden des Fremden nur ihn allein so ergriffen haben, dass nicht alle so empfänglich sind für Worte wie er. „Die andern haben ja das Nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet“ (Hch, S. 63). Er verspürt einen „wunderlichen Zustand“ (Hch, S. 63), den er nicht in Worte zu fassen vermag. Ein „tiefes, inniges Treiben“ (Hch, S. 63) lässt ihn nach etwas suchen, wofür im Roman die blaue Blume steht – als Ziel seiner Sehnsucht. Er erblickt sie zum ersten Male am Ende seines Traumes.

Heinrich träumt, wie er sich in der Höhle befindet und wie er in dieser Höhle einen Traum hat: „Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte“ (Hch, S. 65). Heinrich hat einen Traum im Traum.

Die Höhle in Heinrichs Traum steht für ein wunderbares Versprechen: Es zeigt sich ihm hier, dass sich Schönheit und Erhabenheit in vollkommener Einheit und gleichzeitig erfahren lassen. Berauscht und doch bei vollem Verstande sein – Heinrich erfährt es im Traum. Es ist eine ganz bestimmte Art von Wachsein und Erregtheit. Am Endes seines Traumes sieht er zum ersten Male die blaue Blume. Sie wächst dort, wo der unterirdische Strom das Erdinnere verlässt und als Quellwasser ans Tageslicht tritt.

Auch im Traum des Vaters, von dem dieser erzählt, spielt die Begegnung mit einem Fremden eine wichtige Rolle. Die Bekanntschaft mit dem alten Mann, der sich in heidnischen Zeiten wie zu Hause fühlt und der „mit lebendigem Feuer“ (Hch, S. 69) Gedichte vorträgt, wühlt den jungen Mann auf: „Es war mir, als sei ich in einer neuen Welt an Land gestiegen“ (Hch, S. 69). Er träumt in dieser Nacht einen Traum, in welchem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen: Während er sich im Traum in der Zukunft zu befinden glaubt, weil die Begegnung mit dem Alten vor langer Zeit gewesen sein muss, trifft er auf eine Gestalt aus viel weiter zurückliegender Zeit: Barbarossa. Doch dann ist es sein Gastgeber aus der Gegenwart, der ihn aus seiner Betrachtung aufstört und aus der Höhle wieder hinausführt in eine unbekannte Landschaft.

Sowohl in Heinrichs als auch in des Vaters Traum spielt eine Blume die Schlüsselrolle. Der Vater, der im weiteren Traumverlauf von seiner Geliebten träumt, erwacht, von „heftiger Liebe bewegt“ (Hch, S. 71) und reist nach Augsburg zurück, weil er um sie werben will. Er misst den Worten des Alten keine Bedeutung bei, der ihm im Traum sagte: „Du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bei dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden“ (Hch, S. 71). Vielmehr sehnt er sich plötzlich nach seiner fernen Liebe und gibt diesem ganz realen Gefühle sofort nach. Dagegen bleibt die Sehnsucht Heinrichs unbestimmt und wach. Für ihn gibt es noch keine konkrete Vorstellung einer Erfüllung. Beide Träume wirken in das Leben der Träumer hinein. Doch während den Vater die Verheißungen an seine Liebe erinnern und zum Handeln treiben, öffnet Heinrich seine Seele weit für alle wunderbaren Dinge. Die Worte des Fremden haben bei ihm den Boden für das Bewusstsein einer starken Empfindsamkeit bereitet. Der Höhlentraum zeigt ihm, welches Erleben möglich sein kann und dass, wenn er seinen Weg weitergeht, am Ende die Erfüllung in Gestalt der blauen Blume auf ihn wartet.

Die Kaufleute erzählen ihr Märchen nach einem langen Gespräch, an dem Heinrich regen Anteil nahm. Heinrich, der noch nie einem Dichter oder Sänger begegnete, ist begierig, so viel wie möglich über diese zu hören. Eine Situation, die helles Wachsein erzeugt und aufnahmebereit macht.

Im Märchen der Kaufleute dient die Höhle wie in uralten Zeiten zum Schutze vor einem Unwetter. Den beiden Liebenden gibt sie in dieser Nacht den Raum, sich einander hinzugeben, umgeben vom Tosen des Sturms. Am Morgen erwachen sie „in einer neuen seligen Welt“ (Hch, S. 93). Das Dunkel der Höhle hatte sie zueinander geführt. Im Licht des Morgens gibt sich die Prinzessin zu erkennen.

Die Höhle hat hier eine Schutzfunktion inne. Sie bewirkt aber auch das Erkennen des rechten, des eigenen Weges.

Der alte Schatzgräber, ein Bergmann, zieht mit seinem Bericht über sein Leben und seine Begeisterung für den Bergbau alle Anwesenden in seinen Bann. Heinrich hört von ihm Lieder und ihm ist, als habe er diese schon einmal irgendwo gehört. Als sie dann aufbrechen, in einer Vollmondnacht, die umliegenden Höhlen zu erkunden, ist die Stimmung wie geschaffen für ein solches Unterfangen.

Die Gruppe bleibt jedoch nicht zusammen. Die Bauern, die im Dunkel der Höhle von jeher wilde Tiere oder gar dämonische Wesen vermuteten, zeigen nach den Knochenfunden in der ersten Höhle keinerlei Verlangen mehr, weiter in die Geheimnisse der Erde vorzudringen. Ihre Neugier ist bereits gesättigt. Ihr Potenzial an Mut und Unternehmungsgeist aufgebraucht. Mehr wollen sie gar nicht wissen. Die Bauern, als sesshafte Menschen, suchen nicht das Abenteuer. Sie gehen lieber wieder hinauf ans Tageslicht und warten dort auf die Rückkehr der anderen.

Die Kaufleute dagegen, die schon viel herumgekommen sind und manches Erstaunliche erlebt und gesehen haben, stehen Erkundungen aufgeschlossen gegenüber. In ihrem Leben ist es notwendig, durch Reisen, die auch gefährlich sein können, in fremde Länder zu gelangen und dort Beziehungen zu knüpfen. So tun sich neue Handelswege auf und neue Geschäftsverbindungen entstehen zum Wohle aller Beteiligten.

Die Kaufleute sehen sich die drei Höhlen mit großem Interesse an und nutzen die Gelegenheit, durch den Einsiedler noch weitere kennenzulernen. Mit ihnen geht auch der Bauernjunge, der dem Vater schon das Haus voller Steine getragen hat und der gewiss einmal Bergmann werden wird. Diesen fasziniert die unterirdische Welt an sich.

Heinrich fühlte sich schon auf dem Weg zur ersten Höhle durch die Erzählungen des alten Schatzgräbers in eine wunderbare Stimmung versetzt. „Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm und zeigte ihm wie einem Gastfreunde alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten ... Die Worte des Alten hatten eine versteckte Tapetentür in ihm geöffnet“ (Hch, S. 124).

Er ist besonders empfänglich gegenüber Worten, aber auch gegenüber Einwirkungen der Natur. Auf geheimnisvolle Weise kommen in dieser Nacht Momente zusammen, die eine magische Szenerie erzeugen: der Vollmond, die Fackeln tragenden Menschen, der Nachklang der Erzählungen des Alten, schließlich der Einstieg in die Erde mit dem ersten realen Höhlenerlebnis für Heinrich nach seinem Traum und den gehörten Höhlengeschichten, der lockende Gesang des Einsiedlers aus der Tiefe – all das hat ihn auf das zentrale Erlebnis in der dritten Höhle vorbereitet. Weitere Höhlen interessieren Heinrich nicht mehr. Er hat seine „Ader“ im Berg gefunden, als er den Bücherschatz erblickt.

Die Bekanntschaft mit dem Einsiedler und das bewegende Gespräch zwischen diesem und dem alten Schatzgräber lassen Heinrich „besonders neue Entwicklungen seines ahndungsvollen Innern“ (Hch, S. 136) spüren. „Manche Worte, manche Gedanken fielen wie belebender Fruchstaub in seinen Schoß und rückten ihn schnell aus dem engen Kreise seiner Jugend auf die Höhe der Welt“ (Hch, S. 136).

Vor dem Betreten der Höhle ist Heinrich deshalb aufgewühlt durch das Gespräch mit dem alten Schatzgräber. Als er später in der dritten Höhle das Gespräch zwischen dem Schatzgräber und dem Einsiedler verfolgt, gerät er immer mehr in einen Zustand, der ihm die Welt wie verzaubert erscheinen lässt.

Heinrichs Lebensbuch

Das besondere Buch, das ihm, als er allein in der Höhle ist, in die Hände gerät, zeigt sich ihm fremd und doch vertraut. Es ist, wie er später erfährt, in provencalischer Sprache geschrieben, die Heinrich nicht kennt. Er bemerkt aber wohl eine Ähnlichkeit mit der italienischen oder lateinischen Sprache.

Das Buch hat keinen Titel und es ist unvollendet. Aber es birgt eine Vielzahl an Bildern, auf denen Heinrich sich selbst und Personen aus seinem Leben erkennt. Aber er sieht sich auch zusammen mit fremden Menschen: im Kampf mit wild aussehenden Männern oder auch in freundlichen Gesprächen mit Sarazenen und Mohren. Häufig sieht er sich auch in Gesellschaft eines Mannes von hoher Gestalt und ernsthaftem Aussehen. Er empfindet tiefe Ehrfurcht vor dem Unbekannten und ist „froh, sich Arm in Arm mit ihm zu sehn“ (Hch, S. 138).

Beim Betrachten des Buches erfährt Heinrich sich als Teil einer mythischen Welt. Er erkennt einwandfrei sich selbst, vertraute Freunde, die Eltern. Aber alle sehen aus und sind gekleidet wie in einer anderen Zeit. Manche Menschen kann er nicht mit Namen nennen, aber sie kommen ihm doch seltsam vertraut vor. Andere wiederum sind ihm – noch – nicht begegnet, und doch sieht er sich im vertrauten Umgang mit ihnen, und seltsame Gefühle steigen in ihm auf. Es ist wie der Blick Heinrichs in einen Spiegel, in dem er sich sieht, aber nicht jetzt und nicht hier.

Heinricht sieht nicht nur Vergangenes in diesem Buch. Er sieht seine gegenwärtige Situation: wie er in dieser Höhle weilt – und er sieht Szenen seines zukünftigen Lebens. Anders lassen sich die Bilder für ihn nicht deuten. Er blättert in seinem eigenen Lebensbuch. Alles scheint auf geheimnisvolle Weise miteinander zusammenzuhängen. Dieses Buch mag uralt sein und doch enthält es für Heinrich gegenwärtige Szenen. Es stammt aus dem Nachlass eines Mannes, der zumindest seinen Lebensabend in Jerusalem verbrachte. Auch diese Anspielung auf Wurzeln im Vorderen Orient, im Morgenland, durchziehen den Roman.

Heinrichs Entwicklung zum Dichter

So wie die Zeiten sich überlagern oder gar verschmelzen zu einer einzigen „Urzeit“, in der alles gleichzeitig bewusst ist – Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges – so gibt es auch Personen in dem Roman, die miteinander zu verschmelzen scheinen oder auseinander hervorgegangen sein könnten. Sie werden zu Typen, zu Idealen, die in vielerlei Gestalt wiederkehren:

Zum einen gibt es den Dichter sozusagen als gereiften Menschen in der Gestalt Klingsohrs. Und es gibt den jugendlichen Dichter-Anwärter Heinrich, in dessen Innerem vieles noch schlummert. Manches ist ihm halb bewusst und eine Sehnsucht treibt ihn in die richtige Richtung. Durch inneres Erleben und Betrachten wird er einmal die Schalen und Wände aufbrechen können, um alles in einer Schau zu sehen.

Zum anderen gibt es die „Bergleute“. Sie begegnen Heinrich einmal in der Gestalt von tatsächlichen Arbeitern unter Tage, die nach dem „König der Metalle“ suchen, wie der Schatzgräber und dessen inzwischen verstorbener Lehrmeister. Zum anderen erlebt er sie als Bergbewohner wie den steinernen Alten im Traum von Heinrichs Vater (Barbarossa, Kyffhäuser-Sage) und den Graf von Hohenzollern, den Einsiedler, in dessen Höhle Heinrich das Buch findet.

Bergleute sind „beinah' verkehrte Astrologen“ (Hch, S. 133), sagt der Einsiedler. Astrologen befragen den Himmel nach der Zukunft, Bergleute befragen die Erde nach der Vergangenheit, nach dem Ursprünglichen, nach dem, was war vor aller Zeit. Heinrich wird am Ende seinen inneren Schatz zu heben vermögen, so wie die Bergleute die Schätze der Erde auffinden und ans Tageslicht bringen. Wie den Bergleuten werden Heinrichs Schätze ihm eine „ursprüngliche Wunderbarkeit“ offenbaren.

Für die Entwicklung Heinrichs zum Dichter gibt es drei bedeutende Begebenheiten. Das ist zum einen der Traum von der blauen Blume, der der Reise vorausgeht und der für ihn die Verheißung eines noch nicht klar definierten Glückes darstellt.

Zum anderen ist das die Ankunft in Augsburg, das äußerliche Ende seiner Reise, und dort die Bekanntschaft mit dem Dichter Klingsohr, der sein Lehrer werden wird. Dazwischen liegt das Ereignis mit dem Buch. Diese Begegnung findet im fünften Kapitel statt, das ist das zentrale Kapitel des ersten Teiles. Für Heinrichs Entwicklung geschieht hier Wesentliches. Im Traum von der blauen Blume hatte er während seines Bades im unterirdischen See ein beinahe rauschhaftes Erlebnis. Jetzt, in der Tiefe der Erde, trifft er auf das, zu dem es ihn immer gezogen hat: Bücher, Mythen, wunderbare Entdeckungen, deutliche Hinweise auf Zusammenhänge in der Welt in Raum und Zeit, die nur dem sich aufschließen, der mit ganzem Herzen und Verstand sich darauf einlässt.

Für Heinrich bedeutet der Besuch der Höhle mit dem Fund des Buches eine Ahnung seines weiteren Lebensweges. „Heinrich war von Natur zum Dichter geboren. Mannigfaltige Zufälle schienen sich zu seiner Bildung zu vereinigen, und noch hatte nichts seine innere Regsamkeit gestört. Alles, was er sah und hörte, schien nur neue Riegel in ihm wegzuschieben und neue Fenster ihm zu öffnen. Er sah die Welt in ihren großen und abwechselnden Verhältnissen vor sich liegen. Noch war sie aber stumm und ihre Seele, das Gespräch, noch nicht erwacht“ (Hch, S. 140/141).

Novalis unterscheidet zu Beginn des sechsten Kapitels deutlich zwischen „Menschen, die zum Handeln, zur Geschäftigkeit geboren sind“ (Hch, S. 139), und Menschen, „deren Welt ihr Gemüt, deren Tätigkeit die Betrachtung, deren Leben ein leises Bilden ihrer inneren Kräfte ist“ (Hch, S. 139).

Während jene ihrer Seele nicht gestatten dürfen, stillen Betrachtungen nachzugehen, sondern sie vielmehr abhärten müssen, um „selbst im Drange großer Begebenheiten den Faden ihres Zwecks festzuhalten“ (Hch, S. 139), ruhen diese in sich selbst. „Ein stiller Besitz genügt ihnen, und das unermeßliche Schauspiel außer ihnen reizt sie nicht, selbst darin aufzutreten, sondern kommt ihnen bedeutend und wunderbar genug vor, um seiner Betrachtung ihre Muße zu widmen“ (Hch, S. 139).

An dieser Stelle, also nach dem Erlebnis mit dem Buch, hebt Novalis hervor, was Heinrich auszeichnet, denn jetzt hat auch Heinrich selbst darüber mehr Klarheit erreicht. Er gehört zu den Dichtern, und Dichter sind diejenigen, die man zu Recht Weise nennen darf. Solche Menschen brauchen kein unruhevolles, tätiges Leben. Ihr „empfindlicher Sinn“ (Hch, S. 140) wird schon durch Naheliegendes beschäftigt. Ein heftigeres, lauteres, bewegteres Leben ließe ihre Stimme verstummen, da sie die Feinheiten nicht mehr wahrnähmen.

Heinrich hat eine unbestimmte Sehnsucht durch die Erzählungen des Fremden und durch seinen Traum kennengelernt. Aber alle Stationen seiner Reise, alle Märchen, alle Lieder, die er hört, alle Menschen, die er kennenlernt, sind schon immer in ihm gewesen. Alle Begegnungen lösen nur Reaktionen des Wiedererkennens aus. Heinrich trägt das Dichterische, das Mythische, das Vergangene, Untergegangene und auch das Zukünftige in sich. Es ist anfangs verborgen wie es die Schätze im Dunkel der Erde sind.

Zeitbezug und Ziel

Warum lässt Novalis seinen Helden ausgerechnet in Höhlen und Träumen den eigenen Weg finden? Es wäre doch auch vorstellbar, dass Heinrich stets nach dem Erklimmen eines Berggipfels auch innerlich eine weitere Sicht erlangt hätte. Stattdessen findet sein Vorankommen im Bauch der Erde, in den geheimen Werkstätten der Natur, in der Steine und Metalle wachsen, statt.

Wenn man bedenkt, zu welcher Zeit der Roman geschrieben wurde, erscheint diese Tatsache ganz folgerichtig, denn es kommen verschiedene zeitspezifische Faktoren zusammen: Im achtzehnten Jahrhundert begann die geologische und topographische Erschließung von Höhlen. Dabei galt das Erdinnere als ein Organismus, dessen Erkundung sowohl dem Wissenschaftler als auch dem Künstler aufschlussreich erschien. Die Menschen erhofften sich von Höhlenexpeditionen „eine Antwort auf die in der Aufklärung neu gestellte Frage nach der Entstehung der Welt“ (Röder, S. 119).

Von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an bestand ein großes Interesse daran, Aberglaube, Legende und Naturbetrachtung voneinander zu lösen und exakte, nachprüfbare Ergebnisse in der Forschung zu erzielen. Wissenschaftlicher Eifer und Forscherdrang ließen einen wahren Höhlenboom entstehen. Zum Ende des Jahrhunderts hin setzte parallel dazu ein Besucherstrom in die Höhlen ein, „der sich weniger aus dem Bedürfnis nach naturkundlichen Forschungen nährte, sondern mehr von der Neugier auf die unterirdischen Wunder geleitet wurde“ (Röder, S. 77). Die meisten Besucher erwarteten eine abenteuerliche Vergnügungstour und das Erleben von Gruselgefühlen und Schauder.

Gleichzeitig bildete sich eine Naturästhetik heraus, die den Höhlen eine besondere emotionale Qualität zuwies. Man verband mit ihnen Märchen und Sagen. Ihre große Anziehungskraft bestand vor allem „in ihrem romantischen Charakter (...), das heißt den Gefühlen und mythologisch-poetischen Assoziationen, die mit ihnen verknüpft sind“ (Röder, S. 119).

Höhlen galten gleichzeitig als Naturwunder und als mythologische Orte. Spuren längst vergangenen Lebens führten hin zu Mythen, ließen sagenhafte Gestalten nahe sein und ihre Anwesenheit spüren.

Manche bedeutenden Denker dieser Zeit haben sich für Höhlen interessiert. Haller beschwor schon 1729 in seinem Gedicht Die Alpen auch das unterirdische Reich der Mineralien, wobei er in Fußnoten naturkundliche Beobachtungen beifügte. Leibniz schrieb 1749 seine Forschungsergebnisse nieder (Protogaea). Goethe hielt seine Eindrücke in mehreren Schriften fest.

Novalis selbst besuchte nach seinem Studium der Jurisprudenz, Mathematik und Philosophie in Jena, Leipzig und Wittenberg die Bergakademie in Freiberg und wurde Salinenassessor, später Amtshauptmann im Bergbau. Höhlen interessierten ihn also schon von Berufs wegen.

Nach Novalis kann der Mensch zur ersehnten Einheit mit der Natur nur auf dem Wege der Poetisierung gelangen. In der Fähigkeit zur Zusammenschau von Natur und Geist liegt die Möglichkeit, die Trennung von Endlichem und Unendlichem aufzuheben und den Weg über das Romantisieren der Welt ins goldene Zeitalter, das Paradies, zu finden.

Der beabsichtigte Unterschied zu Wilhelm Meister zeigt sich hier deutlich. So kann man Heinrich gar einen „umgekehrten Wilhelm Meister“ nennen. Wilhelm Meister wendet sich von der Prosa des Lebens ab, um den unklaren Vorstellungen von Glück und Ideal nachzujagen, bis er zuletzt das Ideale doch im Wirklichen wiederfindet. Heinrich dagegen entfernt sich immer weiter vom realen Dasein und vergeht in einer traumhaft zerfließenden Weltsicht.

Die Herausstellung der ihm wesentlichen Dinge für die Entwicklung eines jungen Menschen zum Dichter hat Novalis in dem Roman Heinrich von Ofterdingen auf das Klarste vollzogen und sich damit vom Bildungsideal der Klassik abgewandt. Für ihn liegt das Ideale nicht im Wirklichen, sondern in der Synthese von Natur, Geist und Seele.

Literatur

Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Novalis' Werke. Fouqués Undine, Hrsg: J. Dohmke. Leipzig o.J. Im Text abgekürzt zitiert: Hch.

Röder, Sabine: Höhlenfaszination in der Kunst um 1800. Dissertation. Remscheid o.J.



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