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Weibliche Hauptfiguren in
Wilhelm Raabes Novellen

Eine Untersuchung ihrer Charaktere, ihres Rollenverhaltens und der Art ihrer Einflussnahme auf den Handlungsverlauf,
dargestellt an fünf ausgewählten Beispielen:
Laurentia    Jemima   Athela   Else   Ludowike  

© Christel Baumgart 2023



Von den betrachteten fünf weiblichen Hauptfiguren in den Novellen Raabes sterben drei am Ende der Geschichte. Für eine, Ludowike, mag der Tod und mögen die Minuten davor ein letztes Glück bedeutet haben in einem von geistiger Umnachtung bestimmten, leidvollen Dasein. Ihr Wachsein am Ende und ihr bewusstes Sterben versöhnen mit ihrem Schicksal.

Jemima und Else von der Tanne hätte man degegen gern noch ein Stück auf ihrem weiteren Lebensweg begleitet. Doch beide müssen in der Blüte ihrer Jahre sterben, die eine an einem kranken Herzen, die andere durch Gewalt, die ihr von Menschen angetan wird.

Athela dagegen wird nur kurzfristig in einen Strudel der Verwirrung gezogen und entkommt all dem Leid um sie herum unbeschadet. Ihr weiteres Leben an der Seite eines reichen Kaufmannes kann man sich leicht vorstellen.

Laurentia erfährt nach dem Selbstmord des Vaters auch noch den Verlust der Heimat. Nach jahrelangem traurigen Dasein kann sie jedoch ein langes glückliches und angesehenes Leben an der Seite des geliebten Mannes führen.

Haben diese Frauen etwas gemeinsam? Inwieweit tragen sie zu ihrem Schicksal bei? Wie beeinflussen sie das Geschehen? Zu welchem Zeitpunkt hätten sie anders handeln müssen? Handeln sie überhaupt? Diesen Fragen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.


Laurentia
Laurentia Heyliger ist die Tochter des ehemaligen Zinsmeisters der Freien Stadt Rothenburg, sein einziges Kind. Ihre Mutter starb im Jahr nach ihrer Geburt. Laurentia lebt zusammen mit dem Vater und einer Magd inmitten der Stadt in einem verfallenden Gemäuer, der ehemals prächtigen Silberburg. Seit einem Jahrzehnte zurückliegenden Prozessausgang wird der alte Heyliger von den Bewohnern der Stadt gemieden und ist mittlerweile recht sonderbar geworden. Laurentia wächst in tiefster Zurückgezogenheit auf. Einzige Höhepunkte in ihrem Leben sind die heimlichen Treffen nachts mit Georg Kindler im verwilderten Garten der Silberburg.

Laurentia ahnt nichts von dem Verhängnis, das mit dem Eintreffen Wolf Scheffers, der die seit längerem freie Stelle des Scharfrichters übernimmt, ihrem Glück droht. Wolf hat aus Kriegstagen noch eine alte Rechnung mit Georg offen. Georg spricht mit ihr nicht darüber und beide bemerken nicht, dass Wolf sie belauscht.

Raabe schildert sie als eine fromme, jungfräuliche Schönheit, die in leidvoller Sorge um den Vater ist. Sie gleicht einer „verwünschten Prinzessin“ (S. 18), ist schutzbedürftig und ohne Wissen um die Schlechtigkeit der Menschen. Wenn der Vater in der Sturmnacht durchs Haus schleicht, steigt ihre Angst vor den Naturgewalten und dem unberechenbaren Tun des Vaters ins Unermessliche. Sie besänftigt sich selbst durch das Heraufbeschwören glücklicher Momente, die sie mit Georg erleben durfte.

In den Augenblicken höchster Dramatik, während der Rede Wolfs nach seinem Erscheinen in der Silberburg, bleibt Laurentia in ihrer Wehr- und Hilflosigkeit kein anderes Mittel, als sich an die Brust des Geliebten zu werfen und um Schutz zu flehen. Als sich später alle anschicken, das Haus nach dem alten Heyliger zu durchsuchen, legt Georg „sachte die Geliebte in die Arme der alten Magd“ (S. 52). Laurentia bleibt der Anblick des toten Vaters erspart. Als der Leichnam nach dem Abschneiden auf dem Boden aufschlägt, fällt sie im Zimmer darunter in eine „wohltätige Ohnmacht“ (S. 53). Georg trägt sie daraufhin „wie ein Kind“ (ebd.) in seines Vaters Turm.

In der kommenden Nacht versichern sie einander immer wieder ihre Liebe und Treue. Nach dem Einsturz der Silberburg und dem Tod des Widersachers Wolf verlassen die Liebenden als reiche Eheleute die Stadt und führen ein angesehenes Leben, weit fort, in Linz.

Laurentias Wesenszüge sind das Passive, das Hilflose. Sie ist nicht zum Handeln erzogen worden, weiß auch nicht viel über die Menschen. Sie sorgt sich um den verwirrten Vater, kann aber nicht auf ihn eingehen, mit ihm reden, nicht wirklich für ihn Sorge tragen. Sie ist das „Kind“ und sucht in Georg ihren Beschützer.

Sie beeinflusst den Handlungsverlauf in keiner aktiven Weise. Sie gebraucht nie das Wort zur Auseinandersetzung, zum Argument, zum Streite. Ihr Reden ist Flehen, Klagen, Gebet. Die Äußerungen ihrer Liebe sind Rufe nach Liebe und zeigen ihre maßlose Angst vor dem Verlassenwerden und dem Alleinsein auf der Welt.

Es fällt schwer, sich vorzustellen, Laurentia würde sich an einer Stelle plötzlich als aktive Heldin erweisen und den Lauf des Schicksals anhalten oder selbst in die Hand nehmen. Ihr Lebensweg scheint insofern vorgezeichnet zu sein, als er auf jeden Fall von einer anderen Person bestimmt sein wird. Sie hat Glück und wird aus ihrem erbärmlichen Lebenmsumfeld befreit. An der Seite Georgs kann sie zur „schöne[n] Frau Laurentia“ (S. 57) reifen und in ihrer Rolle als Mutter gewiss auch Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein erfahren.


Jemima
Jemima Löw ist das Kind einer Jüdin und des Baruch Löw. Die Eltern handeln im Judenviertel von Prag mit getragenen Kleidern und gebrauchten Gerätschaften. Jemima verbringt ihre Tage auf dem alten Judenfriedhof Beth-Chaim, dem ‚Haus des Lebens‘. Der alte Pförtner, ein Verwandter, weiht sie in die Geschichten der Verstorbenen ein. Sie kennt die Inschriften der Grabmale und der Friedhof ist ihr vertrauter Ort und Spielplatz.

Bei ihrer ersten Begegnung mit dem Medizinstudenten Hermann, der sie nach dem Weg zu dem alten Judenfriedhof fragt, führt sie ihn in die Irre und verlacht ihn. Bei ihrem zweiten Auftauchen spielt sie zuerst weiterhin den Schelm, den Kobold, wird dann jedoch ernst und sittsam und es zeigt sich, dass sie sehr wohl in der Lage ist, klar und vernünftig zu denken.

In den vielen Gesprächen, die Jemima und Hermann im Sommer des Jahres 1819 auf dem jüdischen Friedhof führen, ist sie die „kleine Lehrerin“ (S. 102), diejenige, die die Geschichte und die Geschichten ihres Volkes weitergibt und Hermann mit den lange Verstorbenen so vertraut werden lässt, dass er meint, sie seien Gestalten aus der Geschichte seines eigenen Volkes.

Ihrem Zauber, ihrer Launenhaftigkeit, ihrer unbegreifbaren Mischung aus altkluger Kindhaftigkeit und weiser Feenhaftigkeit erliegt Hermann. Sie ist ihm „Verführerin“ und „Teufelin“ (S. 96), „unerzogenes Judenmädchen“ (S. 103) und dann wieder „nur ein armes, schönes, holdseliges, melancholisches Kind der Menschen“ (ebd.). Seine Gefühle für sie kann er nicht einordnen.

Als Jemima ihm im Herbst den Grabstein der Mahalath zeigt und unvermittelt die Geschichte der Toten zu ihrer eigenen macht, ergreift dies Hermann so stark, dass er ihr seine Liebe gesteht, „ohne zu wissen, was ich tat“ (S. 106). Dem folgt ein Zornesausbruch Jemimas, die wohl weiß, dass sie nicht wirklich geliebt wird. Seine Verwirrung, seine Angst um sie stimmen sie milder. Sie erzählt von der Gewissheit, dass sie nicht mehr lange zu leben hat und tröstet Hermann, dass er sie eines Tages vergessen wird, „wie man einen Traum vergißt“ (S. 108).

Jemima stirbt im Frühling des folgenden Jahres, ohne ihn wiedergesehen zu haben. Der alte Pförtner berichtet dem aus einer Ahnung heraus angereisten Hermann von ihrem schönen Sterben. An Hermann habe sie in der Zeit ihres Sterbens mit Freude und Segenswünschen gedacht.

Jemima ist die Stärkere von den beiden. Schon bei ihrer ersten Begegnung hat sie die Fäden in der Hand und zeigt Hermann, wo es hinführt, wenn er sich mit ihr einlässt: in die Irre, in eine Sackgasse. Bei der zweiten Begegnung stellt sie die Weichen dafür, wie es in dieser Beziehung freundschaftlich weitergehen könnte. Ihr wahres, ernsthaftes, nachdenkliches Wesen zeigt sie erst dem Freund. Und an dem schicksalhaften letzten Tag ihrer gemeinsamen Zeit beendet sie das Verhältnis, das keine Zukunft haben kann, indem sie ihn auffordert: „Gehe fort und gehe bald; es ist dein und mein Geschick!“ (S. 109)

Sie weist seine versehentliche Liebesäußerung zurück. Jemima weiß um die Unmöglichkeit einer gemeinsamen Zukunft mit diesem Studenten, der aus einer anderen Welt als sie kommt. Sie will Aufrichtigkeit und lehnt Schönrederei ab. Wenn er verwirrt ist und seine Gefühle falsch versteht, weist sie ihn zurecht. Jemima will lieber keine Liebe als eine unvollkommene, halbherzige, unaufrichtige.

Jemima sieht das Schicksal der 1780 gestorbenen jüdischen Tänzerin Mahalath sich in ihrer eigenen Person wiederholen. Mahalath war gestorben, nachdem sie wohl eine Liebschaft mit einem Christen aus Prag („von der Kleinseite, vom Malteserplatz“, S. 110) gehabt hatte. Ihre wirkliche Todesursache erfahren wir nicht. „Sie hatte ein krankes Herz wie ich“ (S. 104), sie „sehnte sich nach dem Licht“ (S. 106) und ist daran zugrunde gegangen wie „viele große Männer aus allen Völkern“ (ebd.). Mahalaths Seele war zu stolz, „um äußerlich zu zeigen, was sie duldete um ihr Volk“ (ebd.).

Jemima sieht sich in einer entsprechenden Rolle. Sie versteht sich als Teil ihres Volkes und gewinnt daraus Selbstbewusstsein. Sie verspürt keinen Schrecken bei dem Gedanken, bald zu der Gemeinschaft der Verstorbenen zu gehören, die ihr doch alle so vertraut sind. Jemima geht zu Freunden. Sie begreift die Krankheit wie die vergebliche Liebe als ihr Schicksal. Sie will sich nicht dagegen wehren, denn gegen die Bestimmung kann man sich nicht wehren.

Mahalath hat ihr Leben „mit Kummer beschlossen“ (S. 110), wie der alte Pförtner Hermann erzählt. Jemima wächst über Mahalath hinaus, wenn sie am Ende ihrer Tage nicht mit dem Schicksal hadert und verzweifelt, sondern sich an das Schöne und das Licht erinnert, das ihr in der Welt begegnete und mit Freude an Hermann denkt. ‚Totsein‘ heißt für Jemima, eine Geschichte haben.

Sie vereint in sich Kindliches und Weisheit. In gewisser Weise ist sie reifer als der ältere Hermann. Hermann erscheint neben ihr als orientierungsloser junger Mann ohne Wurzeln.

Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Geschichte der beiden zu einer ganz normalen Liebesgeschichte hätte entwickeln können. Der Tod Jemimas scheint unausweichlich, nachdem sie einmal davon gesprochen hat. Ihr Zauber, ihre Außergewöhnlichkeit wären verlorengegangen, wenn sich die Krankheit im Laufe der Zeit als nicht wahr, als eingebildet oder auch als heilbar erwiesen hätte. Hermanns immer schwelender Verdacht, ihre Geschichten entsprängen einer blühenden Fantasie, wäre bestätigt worden und Jemima erschiene uns im Nachhinein als eine kleine, nette Lügnerin, die man nicht ernst zu nehmen braucht. So aber bewahrt Raabe ihr Größe und Würde.


Athela
Athela ist die Tochter des Bürgermeisters von Hameln, das schönste Mädchen der Stadt, und sie weiß es auch. Raabe schildert sie als kalte Schönheit mit ruhigem Herzen. Sie lässt sich die Huldigungen des jungen Floris gefallen, „weil er der Erste unter den städtischen Jünglingen“ (S. 141) ist. Sie geht aber auch mit ihm schroff um, wenn er ihren Anforderungen nicht entspricht, wie etwa am Abend des ersten Maifeiertages.

Kiza, der Pfeifer, verliebt sich in sie. Er ist aber schon in den Augen der Jugendlichen Hamelns nur „ein hündischer Wend“ (S. 134), ein Heide, weniger als ein Tier. Die schöne, stolze Athela nimmt ihn kaum wahr und hat allenfalls Verachtung für ihn übrig.

Wir erfahren nichts über ihre Reaktion auf das allnächtliche Pfeifenspiel unter ihrem Fenster, das Kiza anstimmt, bis man ihn verjagt. Sie kann es nicht überhört haben, aber es hat auch keine Wirkung auf ihr Herz.

Beim zweiten Maifest spielt Kiza wieder auf, um Athela zu erobern. Es gelingt ihm, die Widerstrebende und Schreiende im allgemeinen Tumult zu küssen und sie zum Tanzen mit sich zu ziehen, für Kiza ein Traum, der endlich wahr wird, für Athela ein grässlicher Albtraum.

Der Verrat des Kiza, mit dem er sich später an der Stadt, die für ihn nur Hohn und Verachtung hegte, rächt, bringt nicht nur einhundertdreißig Söhnen der Stadt, darunter auch Floris, sondern auch ihm selbst den Tod.

Raabe spricht abschließend von den schönen und lieblichen Jungfrauen Hamelns, die ihr Leben einsam fristeten „in ihrem Kämmerlein oder im Kloster“ (S. 157). Dagegen setzt er „die schöne Athela“ (ebd.), die ihren Floris schnell vergisst und einen reichen Kaufmann heiratet. Aus dem „so öde gewordenen Hameln“ (ebd.) ziehen sie fort in seine Heimatstadt Bremen.

Mit der immer wiederkehrenden Formel „die schöne Athela“ bekommt der Ausdruck etwas Spöttisches. Es entsteht er Eindruck: Athela ist schön, sie ist aber auch nichts weiter als schön. Es gibt von ihr einfach nicht mehr zu berichten. Weitere positive Eigenschaften neben ihrem Aussehen werden nicht genannt. Sie ist eine stolze, schöne Jungfrau. Aber Raabe nennt sie niemals „lieblich“ oder „zart“. Athela hat keine ‚sozialen’ Züge. Als Tochter des Bürgermeisters wird ihr ein gewisser Wohlstand selbstverständlich sein. Diese Dinge, die wir von ihr wissen, bewahrt sie über die Ereignisse hinweg auf: ihren Stolz, ihre Schönheit, die gesellschaftliche Stellung, die Ruhe und die Wohlüberlegtheit ohne Wärme.

Athela hat sich Kiza gegenüber nicht anders verhalten als alle anderen. Dass sie für ihn Partei hätte ergreifen können, liegt außerhalb alles Vorstellbaren, wenn man berücksichtigt, dass Kiza als Wende, als Heide von der Hamelner Bevölkerung überhaupt nicht als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft angesehen wurde.

Vielleicht hätte ein freundliches Lächeln dem die schöne Athela belagernden Wenden genügt. Vielleicht hätte ein klein wenig Wärme in ihrem Blick sein Verlangen in andere Bahnen gelenkt. Vielleicht hätte ein mäßigendes Wort Athelas die Hämelschen Jünglinge an ihrem grausamen Verhalten Kiza gegenüber hindern können. Wer weiß? Der „schönen Athela“, wie Raabe sie schildert, hätte es gut angestanden, ihren Einfluss, der ihr aus ihrer Stellung und Schönheit erwuchs, im Sinne der Nächstenliebe einzusetzen. Aber Athela ist eben, wie schon gesagt, ohne Wärme und sich selbst genug.


Else
Else von der Tanne verliert im Dreißigjährigen Krieg als kleines Kind die Mutter und zwei ältere Geschwister. Der Vater, Konrad, ehemals Lehrer an der Domschule in Magdeburg, zieht mit dem sechsjährigen Mädchen nach vier Jahren elenden Lebens in den Trümmern der Heimatstadt in den Wald, „dem Greuel der Welt ganz zu entfliehen und sein Kind zu retten aus dem Chaos und der Sünde der Zeit“ (S. 177).

Else wächst von einem zarten, kleinen Kind zur „schönste[n] aller Jungfrauen“ (S. 179) heran. Sie ist ein sittsames, hilfreiches, natur- und tierliebendes Mädchen. Der junge Pfarrer des Ortes, Friedemann Leutenbacher, einsam in der Fremde wie Konrad, kann sich mit dem Vater und ihr anfreunden und ist über Jahre hinweg die einzige Person, zu der die beiden Kontakt haben, denn die Bewohner des nahegelegenen Dorfes Wallrode im Elend meiden den Ort im Wald, an dem Konrad mit seinen vier großen Hunden haust und das Töchterchen von den Feindseligkeiten der Welt fernhält. Ihr Außenseiterdasein löst Befremden und Misstrauen aus. Die Stelle im Wald gilt als verrufen.

Elses zartes Wesen, ihre Leichtigkeit und Heiterkeit, ihre Liebe zum Wald und zu den Tieren, ihre Unberührtheit von Sünden lassen Leutenbacher eine andere Welt kennenlernen neben seiner einfachen und abergläubischen Gemeinde. Else lehrt ihn vieles, so erfahren wir. Doch was er, der wesentlich Ältere, ihr gibt, lesen wir nirgendwo. Die Erzählweise Raabes gleicht über lange Strecken der Sichtweise, die der einsame Leutenbacher gehabt haben muss.

Else und Leutenbacher sind in enger Freundschaft miteinander verbunden. Die Entwicklung einer Liebe ist vorauszusehen, wenn auch eine gemeinsame Zukunft nicht unbedingt als eine glückliche erwartet werden kann.

Für ihren achtzehnten Geburtstag, dem Tag Johannes des Täufers, an dem Leutenbacher in seiner kriegszerstörten Kirche das Abendmahl austeilen will, kündigt Konrad erstmals seine und Elses Teilnahme an.

Ihr Erscheinen löst im Dorf Entsetzen und Wut aus. Else wird als Hexe angesehen, Konrad als Zaubermeister. Erde von einem frischen Grab und ein Zweig von einem Baum, an dem ein Mann erhängt wurde, sollen sie in der Kirche bannen und ein Verlassen nach dem Gottesdienst unmöglich machen. Tatsächlich hindert die wütende Menschenansammlung vor der Kirchentüre Vater und Tochter am Überschreiten der Schwelle. Leutenbacher kann sich kein Gehör verschaffen. Angst und Wut der aufgebrachten Menge sind stärker als der Respekt vor dem Gottesmann. Erst als Else, von einem Stein auf der linken Brustseite getroffen, zu Boden sinkt, flieht die Menge vor Leutenbachers wahnsinniger Wut.

Else stirbt Monate später, am 24. Dezember 1648 an ihrer Verletzung. Leutenbacher kommt in der folgenden Nacht um, nachdem er in Verzweiflung über Elses Tod seine Klage über die Verlassenheit des Menschen in die Welt geschrien hat.

Else, das zarte, liebe Kind, von den Kriegswirren und der Sündhaftigkeit der Menschen abgeschirmt, kennt nur den Vater und den Pfarrer. Was ihr als Schutz zugedacht war, wird ihr zum Verhängnis. Das Stückchen heile Welt, in dem sie aufwächst, ist ein Trugbild und der Friede von Anfang an ein brüchiger. Der große Krieg ist beendet, aber der Mensch ist noch immer des Menschen Feind. Else kann sich nicht gegen die Wut und Aggressivität der Dorfbewohner zur Wehr setzen. Leutenbacher, der sich Gehör und Respekt hätte verschaffen müssen, scheitert an der mangelnden Beziehung, die er zu seiner Gemeinde hat aufbauen können.

Else ist „die Seele des großen Waldes“ (S. 178). Ihre Welt ist friedvoll bis zu dem Tag, an dem sie den Wald verlässt. Ihre Absicht ist dabei nicht einmal, die Gemeinschaft der Menschen zu suchen. Sie möchte mit dem Vater am Abendmahl teilnehmen und versteht die schlechten Vorzeichen nicht: Das scheue oder aggressive Verhalten der Dorfbewohner und die Warnung der alten Justine irritieren sie nur leicht.

Else verzeiht ihrem Mörder. Sie sorgt sich noch am Tage ihres Todes um die Zukunft ihrer Tiere und um die Weihnachtspredigt Leutenbachers, von der sie hofft, dass sie nicht zu hart für die „armen Leute“ (S. 194) aus dem Dorf werden wird, die doch gar nicht wissen, was sie getan haben.

Elses Persönlichkeit ruht ganz in sich selbst. Sie lebt das Christentum selbstverständlicher als der Pfarrer, der das Elend und die seelische Not nicht auszuhalten vermag.


Ludowike
Ludowike ist die Tochter eines Arztes. Sie hat zwei Brüder. Nach einer frühen Witwerschaft heiratet der Vater ein zweites Mal und es wird ein weiteres Mädchen geboren, die (namenlos bleibende) Erzählerin. Auch die zweite junge Frau stirbt und Ludowike muss bei der jüngeren Stiefschwester die Mutterrolle übernehmen. Es entsteht eine enge Geschwisterliebe.

Die Geschichte der Ludowike spielt in den Jahren 1813/14, als die Erzählerin zwölf Jahre alt ist. Ludowike ist mit dem Leutnant Kupfermann verlobt und eingeweiht in die Verschwörungspläne, an denen er beteiligt ist und mit deren Hilfe die Heimat von der Herrschaft der Franzosen befreit werden soll. Der Plan misslingt, Kupfermann wird festgenommen. Die Nachricht von der Erschießung des Verlobten ereilt Ludowike, während sie gerade einen tröstenden Brief an den Vater Kupfermanns verfasst. Das schlimme Geschehen verwirrt ihren Geist.

Der Vater zieht andere Ärzte zu Rate, aber Ludowike kann keine Hilfe zuteil werden. Da sie sich in der ersten Zeit ihrer Erkrankung sanft und friedlich verhält, wird ihr ein Zimmer im Hause zugewiesen und die jüngere Schwester als Wärterin dazugesperrt, weil sie am besten mit der Kranken umgehen kann.

Nach einem halben Jahr wird sie zunehmend „mürrischer, heftiger, bösartiger“ (S. 238) und auch gewalttätig, ohne jedoch ihren Unmut jemals gegen die kleine Schwester zu richten. Eines Tages flieht Ludowike aus dem Fenster und klettert über ein Spalier in den Garten. Nach diesem Ausbruch wird sie auf den Rat ein „ganz berühmten Arztes“ (S. 241) in einen dunklen Raum gesperrt, ohne jeglichen Kontakt zu den Menschen.

Am Himmelfahrtstag 1814, als die ganze Familie mitsamt den Bediensteten in den Wald zieht, bleibt die Erzählerin aus einer Trägheit und nach einer von bösen Träumen geplagten Nachtruhe allein zurück. Als sie sich im Garten aufhält, entsinnt sie sich der eingesperrten Schwester und nimmt deren Rufen wahr. Die Kleine befreit die Schwester aus ihrer Dunkelhaft. Ludowike rennt nach einer kurzen Zeit der Betäubung und des Überwältigtseins in den Garten. Ihr Geist wird für wenige Minuten wieder ganz klar, sie spricht zu der kleinen Schwester ganz wie zu den Zeiten vor dem Ausbruch ihrer Krankheit, segnet sie und stirbt.

Ludowikes Geschichte ist die Geschichte der Braut, die ihr Liebstes wissentlich für ein höheres Ziel als das private Glück zu opfern bereit ist: für die Freiheit der Heimat. Sie bewahrt Haltung auch noch beim Eintreffen der Todesnachricht. Ihr unerwartetes Verhalten, das heißt ihr Nicht-Reagieren, als sie die Nachricht von der Erschießung Kupferbegrs erhält, zeigt, wie sehr sie verinnerlicht hat, das Geheimnis um jeden Preis zu wahren.

Doch Ludowike zerbricht an dem Verlust. Nur ein paar Minuten gelingt es ihr noch, den Schein zu wahren, die Bewegung des Schreibens scheinbar unbeirrt weiter auszuführen. Dann schwindet alle Kraft.

Ludowike, die früh die eigene Mutter verloren hatte und auch den frühen Tod der Stiefmutter erlebte, musste als Kind schon für die jüngere Stiefschwester die Mutterrolle übernehmen. Sie hatte selbst kaum die Chance, eine unbeschwertes Kinderleben zu führen. Mit dem Zusammenbruch kommt die Verweigerung, für irgendetwas noch verantwortlich zu sein, jemals wieder eine Entscheidung treffen zu müssen.

Ihr Rückzug in die Nicht-Verantwortlichkeit, ins Kleinkind-Dasein kann man als ein unbewusstes Davonlaufen vor der Schuld ansehen. Allerdings ist ihr das dann nicht gelungen. Das Leiden, das sie erwartet hätte, die Gram um das verlorene Glück, die Schmach, weiterhin unter der Franzosenherrschaft leben zu müssen – alles das scheint nicht schwerer zu ertragen zu sein als ein Leben in geistiger Umnachtung unter den damaligen Bedingungen.

Es ist schwer vorstellbar, dass sie im ersten halben Jahr ihrer Zimmerhaft hinter verriegelter Tür nicht aufbegehrt hat. Aus der anfangs pflegeleichten Kranken wird mit der Zeit ein mürrischer, unberechenbarer Mensch, unzufrieden mit sich selbst und nicht in der Lage, Wünsche zu äußern. Einzig die kleine Schwester versteht es, auf sie einzugehen.

Ihrem plötzlichen, unvorhersehbaren Ausbruch in den Garten folgt das Lebendig-begraben-Sein in der ehemaligen Rauchkammer. Ludowike wird, den medizinischen Erkenntnissen der Zeit entsprechend, von jeglichem menschlichen Verkehr ausgeschlossen.

Sie hat in dieser Zeit gewiss auf alle Geräusche im Haus gelauscht. Am Himmelfahrtstag mag sie den allgemeinen Aufbruch mitbekommen haben und das späte Aufstehen der Schwester. Sie ruft nach ihr und bittet: „Schließ auf!“ (S. 247), eine gezielte Handlung, eine Bitte, die die augenblickliche, seltene Situation ausnutzt, dass keiner die Kleine von ihrem Tun abhalten kann.

Auf der Flucht wirft sie einen Blick in den Spiegel – nach einem ungläubigen, tapferen zweiten Blick flieht sie in den Garten. Dass sie hier plötzlich wieder klar wird und sich an alles erinnert, an die Zeit vor dem Ausbruch der Krankheit, aber auch an die „Schrecknis“ (S. 249) in ihrer Dunkelheit, erscheint eher märchenhaft. Hier wird Ludowikes ‚Mission‘ noch einmal überdeutlich dargelegt: Der Wille zur Freiheit ist ihr Motiv. Er hat sie vor einem Jahr das Leben des Bräutigams gekostet, er hat in der Folge Ludowikes Leben zerstört. Ausgerechnet Ludowike, die die Freiheit wollte, verliert ihre geistige Freiheit und muss sich einsperren lassen wie ein gefährliches Tier.

Ludowikes Vermächtnis für die kleine Schwester ist ihr Segensspruch und die Bestätigung, die die Kleine dadurch erfährt, dass sie mit ihrem Verhalten die Kranke „in die Sonne, in den Frühling, in die Freiheit“ (S. 249) geführt und der Schwester noch einmal zur geistigen Wachheit verholfen hat. Damit hat die Erzählerin eine Hilfe, im Leben wieder Fuß zu fassen und an die Schrecknisse als an etwas zu denken, das durch ihr Eingreifen doch noch ein friedliches Ende genommen hat.


Vergleichende Schlussbetrachtung
Bei den betrachteten weiblichen Hauptfiguren handelt es sich ausnahmslos um junge Mädchen. Nicht immer wird das genaue Alter genannt. Jemima ist fünfzehn, Else achtzehn Jahre alt. Auch das Alter der anderen Mädchen dürfte in diesem Bereich liegen.

Raabe stellt besonders das Aufblühen, den Übergang vom Kind zur Frau in den Mittelpunkt. Der ‚Lebensfrühling‘ findet seine Entsprechung in den Frühlingsfesten (Maifeiertag, Himmelfahrtstag) oder allgemein in der Beschreibung der blühenden, erwachenden Natur.

Die Mädchen kommen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten: Athela und Ludowike leben in gutbürgerlichen Familien, Laurentias Vater steht in seiner Heimatstadt wegen eines Vorkommnisses vor langer Zeit in schlechtem Ansehen bei der Bevölkerung. Jemima wächst in einem schmutzigen, ärmlichen Elternhaus in der Judenstadt auf, und Else lebt mit ihrem Vater völlig außerhalb der menschlichen Gesellschaft in einer Hütte im Wald.

Es fällt auf, dass Laurentia, Else und Ludowike ohne Mutter aufwachsen müssen. Jemimas Mutter möchte der Erzähler lieber verschweigen (und tut es auch forthin). Athelas Mutter wird überhaupt nicht erwähnt, wir erfahren nicht, ob sie zum Zeitpunkt der Geschichte noch lebt.

Mütter, Frauen in mittleren Jahren kommen als Hauptfiguren nicht vor. Alte Frauen übernehmen in Nebenrollen die Aufgabe zu dienen (wie die Magd in der Silberburg), oder sie haben etwas Hexenhaftes und Furchteinflößendes an sich (wie Justine in Wallrode) und sagen die Zukunft voraus. Eine wichtige Rolle nimmt die Erzählerin in ‚Im Siegeskranze‘ ein, die mit Altersweisheit und Wärme der Enkelin von einem Geschehen erzählt, von dem kaum ein Mensch noch etwas weiß. Ihr selbst erscheint es schon so fern liegend, aber sie kann sich an die Einzelheiten doch noch ganz genau erinnern.

Die jungen Mädchen leben im 13. (Athela), im 17. (Else), im 18. (Laurenta) bzw. im 19. Jahrhundert (Jemima, Ludowike). Fast immer tobt gerade ein Krieg oder wirft doch seine Schatten auf den Alltag der Menschen.

Für alle Mädchen nimmt der Glaube an Gott einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein. Von Athela wissen wir allerdings nur, dass sie am sonntäglichen Gottesdienst teilnimmt.

Else lebt ganz selbstverständlich nach den christlichen Geboten. Sie kennt keine Sünde und ist die reine Jungfrau schlechthin. In der Einsamkeit des Waldes lebt sie zufrieden und heiter. Sie liebt die Natur und kümmert sich um das Wohl der Tiere. Sie verzeiht ihren Peinigern und bittet noch für sie.

Laurentia lebt auch in einer nicht selbst gewählten Einsamkeit. Auch sie liebt die Blumen und Büsche in ihrem Garten. Aber im Gegensatz zu Else ist ihr Herz voller Angst und Sorge. Ihre Gedanken kreisen stets um das eigene Schicksal: Was soll aus ihr werden, wenn der Vater nicht mehr ist? Was soll aus ihr werden, wenn Georg sie nicht beschützt? Die Sorge um die beiden Menschen, die ihr nahestehen, ist mindestens im gleichen Maße auch die Sorge um die eigene Zukunft. Laurentias Gebete sind Stoßgebete der Angst.

Ludowike hat in ihrer gesunden Zeit nach den Geboten der Nächstenliebe gelebt und sie hat diese auch weitergegeben. Das erfahren wir durch das Verhalten der Stiefschwester, die sie aufgezogen hat. In der Nacht, in der Kupfermann auszieht, betet Ludowike und später, während der Krankheit, gehört das Singen von Liedern aus dem Gesangbuch immer wieder zu den Ritualen, bei denen sie Ruhe erfährt.

Jemima, die Jüdin, spricht von ihrem ‚Volk‘ und meint damit ihre Glaubensbrüder und Glaubensschwestern. Für Jemima steht die Zugehörigkeit zum Judentum im Mittelpunkt ihres Lebens. Sie kann Hermann für die Geschichte der Toten auf dem alten Judenfriedhof begeistern, sie bringt ihm die Glaubensinhalte nahe. Aber sie steckt auch die Grenzen ab: Hermann ist in einer anderen Welt, in einer anderen Religion, in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld aufgewachsen. Er hat keine Geschichte wie sie, er kann nicht auf Vorfahren zurückblicken, die mit dem Rabbi Löw vergleichbar wären.

Jemima, die Selbstbewusste, die einzige der Frauengestalten in den Novellen, die in der Lage zu sein scheint, Entscheidungen zu treffen, fasst die unterschiedliche Herkunft und Religion als ‚Geschick‘ auf und nimmt ihre Krankheit als etwas hin, gegen das man sich nicht wehren kann. Es ist ihr Schicksal, dass Hermann fortgehen und sie vergessen wird. So ist der Lauf der Welt, wie Jemima es hundertfach von den Toten erfahren hat.

Die vier anderen Frauen sind von vornherein so festgelegt in ihrem Charakter, in ihrem Verhalten, dass man überraschende Handlungen und bestimmendes Eingreifen in das Geschehen nicht erwarten kann. Sie sind vor allem passiv. Was um sie her passiert, haben andere veranlasst und zu verantworten. Die Frauen leiden nur unter den Folgen. Ihr Los ist es abzuwarten, am besten im Schutze eines starken, liebenden Mannes.

Da die weiblichen Figuren aufgrund ihres anfangs skizzierten Charakters stets so handeln, wie man es voraussieht, muss das außergewöhnliche Ereignis, von dem in Novellen erzählt wird, von außen kommen und in ihr Leben eingreifen.

Das geschieht bei Laurentia durch das Auftreten Wolf Scheffers, den Selbstmord des Vaters und zu guter Letzt durch das ‚Gottesurteil‘, das die Silberburg einstürzen und Wolf darunter zu Tode kommen lässt.

Bei Else ist es der Gang nach Wallrode zum Abendmahl mit dem Angriff der aufgebrachten Volksmenge auf ihr Leben. Den Besuch des Gottesdienstes hatte Konrad angekündigt, er geschah nicht auf ihre Initiative hin.

Ludowike ist Mitwisserin an der Verschwörung und unterstützt gedanklich das Vorhaben. Das zentrale Ereignis, das Scheitern des Attentates und die anschließende Erschießung des Verlobten, lässt sie in geistige Umnachtung fallen. Die Flucht aus dem ‚Gefängnis‘ geschieht aktiv, aber sie ist keine klar denkende Persönlichkeit mehr zu diesem Zeitpunkt. Ihr Handeln folgt einem Instinkt: dem Drang zum Licht, zur Freiheit.

Kizas Pfeifenspiel versetzt Athela und die anderen Jugendlichen in einen wilden Taumel. Aber selbst dann weiß Athela noch ganz genau, mit wem sie Umgang haben will und mit wem auf keinen Fall. Sie ist sich ihrer Rolle zu jeder Zeit bewusst.

Alle Frauen verhalten sich durchgängig so, wie man es nach ihrer anfänglichen Darstellung erwartet. Sie sind in ihrer Rolle innerhalb der Novelle festgelegt und haben keine Möglichkeit zur Entwicklung eines vielschichtigen Charakters.


Literatur
Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke. Göttingen 1962 (Braunschweiger Ausgabe),
9. Band, Teil 1.
Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch für die Novellen „Das letzte Recht“, „Holunderblüte“, „Die Hämelschen Kinder“ und „Else von der Tanne“.

Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke. Göttingen 1963 (Braunschweiger Ausgabe),
9. Band, Teil 2.
Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch für die Novelle „Im Siegeskranze“.


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