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DER FREMDE BLICK

Über Verwurzelung und Augenblick bei Arno Schmidt
aufgezeigt an dem Roman Das steinerne Herz

© Christel Baumgart 2023


I     Zur Situation der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit.
      Nullpunkt, Neuanfänge und die Rolle Arno Schmidts
II    Arno Schmidts Prosatheorie und ihre Anwendung im Roman
       Das steinerne Herz: Form, (Bild-)Sprache, Wortneuschöpfungen
III   Der fremde Blick
IV   Literatur

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I     Zur Situation der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit.
      Nullpunkt, Neuanfänge und die Rolle Arno Schmidts

Als der Krieg zu Ende ging, war nichts mehr wie zuvor. Die Kraft-durch-Freude-Parolen, die Hass-Tiraden, die Marschgesänge und Durchhalteaufrufe waren verklungen. Es herrschte Frieden in einem besetzten Land. Doch den Trümmern, in denen das Land lag, entsprach ein Trümmerfeld im Innern der Menschen. Die Erfahrung von Krieg, Tod, Hunger, Verlust von Familie und Heimat hatte Wunden geschlagen, die noch immer offenlagen. Das ‚deutsche Wesen‘ hatte sich als Todbringer für Millionen entpuppt, die Machtfantasien Weniger hatten – in einem Ausmaß wie nie zuvor in der Geschichte – Not, Elend und Vernichtung über Europa gebracht.

Nach dem Untergang des ‚Tausendjährigen Reiches‘ mussten die Menschen sich die unbequeme Frage stellen: Haben wir das alles geglaubt, was uns zwölf Jahre lang eingetrichtert worden war? Wenn ja: Was davon konnte man heute, nachdem die schrecklichen Auswirkungen dieser Zeit auf jedem lasteten, noch glauben? Welche Werte und Überzeugungen hatte man über die Kriegsjahre retten können? Waren es die richtigen? Gibt es Werte, die Krieg und Vernichtung immer überstehen werden? Was bot Orientierung?

Als Versuch eines positiven Ansatzes tauchte in dieser Zeit der Begriff ‚Nullpunkt‘ auf. Mit ihm ging der Wunsch einher, die Schrecken und das Leid in die Vergangenheit zu verbannen, das Geschehene als unabänderlich hinzunehmen und dafür einen optimistischen Blick in die Zukunft zu wagen: Es galt, die Beseitigung der Trümmer, den Wiederaufbau, die Neuorientierung in allen Lebensbereichen anzupacken. Der Nullpunkt suggerierte einen völligen Neubeginn und ein Ablegen der Vergangenheit. Gleichzeitig straften Begriffe wie ‚Kollektivschuld‘ und ‚Re-Education‘ die Nullpunkt-Theorie Lügen, denn Gegenwart gründet – so entwurzelt sich Menschen auch fühlen – immer in der Vergangenheit.

Plötzlich besaß die Muttersprache Wörter, die man nicht mehr wie selbstverständlich gebrauchen konnte. Nach der Sprache des Dritten Reiches – heroisierend, pathetisch, kämpferisch – war in vielen Bereichen ein Vakuum entstanden. Begriffe konnten nicht mehr verwendet werden, ohne gleichzeitig die Ideologie des Nationalsozialismus mitzuteilen. Musste man nicht eine ganz andere, eine neue Sprache haben, um unbelastet wieder reden und schreiben zu können?

Aber Sprachen werden nicht ‚erfunden‘ und über einer Nation ausgegossen. Es blieb nur die Auseinandersetzung mit den Trümmern der vorhandenen Sprache. Um zu einem Neuanfang zu gelangen, empfahl sich die Anwendung des gleichen Verfahrens wie bei den Trümmern der Städte: Bestandsaufnahme, abklopfen, reinigen, Wiederverwendung der brauchbaren, Entsorgung der unbrauchbaren Bestandteile.

Ein Neuanfang macht aber nur Sinn, wenn er wahrhaftig ist. Zum Auffinden von Wahrheit braucht man Sprache. Das bedeutet, dass man alles über Bord werfen muss, was an ihr nicht wahrhaftig ist. Es waren die Schriftsteller, die sich dieser Aufgabe annahmen. Über eintausendfünfhundert namentlich bekannte waren emigriert. Viele hatten Selbstmord begangen, waren ermordet oder hingerichtet worden. Für einige der Exilanten bildete das Exil einen Höhepunkt ihrer Schaffenszeit. Sie galten als Repräsentanten des ‚wahren‘ Deutschland. Ihre Namen waren schon vor der Zeit des Nationalsozialismus weithin bekannt: Thomas Mann, Heinrich Mann, Anna Seghers, Bertolt Brecht, Alfred Döblin.

Eine andere Gruppe von Schriftstellern war im Lande geblieben. Teils angepasst, teils widerstehend – durch verschlüsselte Texte – hatten sie die Zeit des Nazi-Regimes überstanden. Manche hatten durch Zeitflucht und Innerlichkeit in ihren Texten Literatur zu einer politikfreien Sphäre gemacht. Diese Haltung, die den Schwerpunkt ihres Schreibens in die menschliche Seele legt, behielten diese Autoren oftmals auch nach dem Kriege bei.

Neben inneren und äußeren Emigranten gab es eine Gruppe jüngerer deutschsprachiger Schriftsteller, von denen nur wenige schon zu Zeiten des Nationalsozialismus veröffentlicht hatten. Für diese ‚junge Generation‘ konnte ein Anknüpfen an die Literatur von vor 1933 nicht in Frage kommen. Sie hatten ausgeharrt, das ‚Tausendjährige Reich‘ überstanden, und manche fühlten sich den ins Exil geflohenen Autoren moralisch überlegen: „Nur die in der Hölle gewesen sind, könnten vielleicht gerühmt werden“ (Ernst Wiechert).

Diese ‚junge Generation‘ war es, die die Sprache erneuern wollte. Der faschistische Wortschatz sollte verbannt, autoritäre Strukturen sollten abgeschafft werden. Poesie wurde zum sekundären Begriff in der Literatur. Zuerst sollte Literatur der Wahrheitsfindung dienen: „Die Kahlschlägler fangen in Sprache, Substanz und Konzeption von vorne an, sie wissen, ... daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie“ (Wolfgang Weyrauch, 1949, im Nachwort der von ihm herausgegebenen Anthologie Tausend Gramm).

1949 äußerte Adorno den berühmt gewordenen Satz: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Damit zielte er auf eine zeitflüchtige Poesie der Innerlichkeit. Insofern lässt sich seine Aussage auch auf die Prosa übertragen: Worüber konnte man noch schreiben? In welcher Form? War nicht nach dem Entsetzlichen, das geschehen war, das unermessliches Leid über Millionen Menschen gebracht hatte, nur noch Schweigen angebracht? Sollten nicht alle verstummen? Konnte in dieser Sprache, mit der in den Tod getrieben worden war, in der unmenschliche Gesetze formuliert worden waren, die als Instrument der Verführung zum Bösen genutzt worden war – konnte in dieser Sprache wieder Unschuldiges gesagt werden? Gab es überhaupt noch Unschuld? Welche Wörter, welche Phrasen waren es gewesen, die sich seit 1933 (oder doch auch schon früher?) in die Sprache eingeschlichen und sie verdorben hatten? Genügte es, sie einfach aus dem Wortschatz zu streichen? War das überhaupt möglich?

Die Schriftsteller der ‚jungen Generation‘ befassten sich mit solchen Fragen. Sie fanden sich allmählich in unterschiedlichen Kreisen zusammen. 1947 tagte in Berlin der erste gesamtdeutsche Schriftstellerkongress. Im gleichen Jahr trafen sich die ehemaligen Redaktionsmitglieder der inzwischen verbotenen Zeitschrift Der Ruf in der Gruppe 47 wieder: Alfred Andersch, Walter Kolbenhoff, Hanns Werner Richter u.a.m. Sie scharten bald weitere ‚junge‘ Schriftsteller um sich. Der deutsche P.E.N.-Club wurde 1949 als Deutsches P.E.N.-Zentrum neugegründet, nachdem es 1937 zum Ausschluss aus dem internationalen Verband wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Satzung gekommen war.

In den Schriftsteller-Vereinigungen suchte man gemeinsam nach einem Neuanfang durch Diskussion gesellschaftlicher, sprachlicher und literarischer Themen. In der Gruppe 47 geschah dies auf eine Weise, die dem jeweils Vortragenden im Anschluss an seine Lesung mit rauer Kritik begegnete. Ein sicherlich nicht leichter Auftritt auch für manchen bereits einigermaßen etablierten Schriftsteller. Trotzdem gewannen diese Treffen schnell an Berühmtheit und eine Einladung wurde bald schon an sich als eine gewisse Anerkennung angesehen.

Nur ganz wenige deutsche Schriftsteller hielten sich fern von jeglichen Verbänden und Kongressen. Ein einziger tat das mit besonderer Konsequenz und verteidigte sein Einzelgängertum in jeder Lebensphase: Arno Schmidt. Dass ihn dennoch genau dieselben Fragen beschäftigten wie seine Kollegen landesweit, dass auch er nach einem neuen Ansatz in Sprache und Literatur suchte und wie er dieses Problem für sich gelöst hat, soll im Folgenden dargelegt werden.


II     Arno Schmidts Prosatheorie und ihre Anwendung im Roman
       Das steinerne Herz: Form, (Bild-)Sprache, Wortneuschöpfungen

Arno Schmidt, Jahrgang 1914, war in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Das ersehnte Studium der Mathematik und Astronomie blieb ihm nach dem Abitur 1933 aus finanziellen Gründen versagt. Er machte eine Lehre als Lagerbuchhalter und arbeitete auch in diesem Beruf. Dabei lernte er seine spätere Frau Alice kennen. Er steckte voller Bildungshunger und Forscherdrang, wobei seine Interessen nicht nur den Naturwissenschaften, sondern besonders auch der Literatur und Geschichte galten. Schmidt wurde bald zum Autodidakten par excellence. Er schrieb Gedichte und Erzählungen, ohne sich damals um eine Veröffentlichung zu bemühen.

Nach dem Kriege mussten sich viele Menschen beruflich völlig neu orientieren. Es war selten der Fall, dass jemand dort wieder anknüpfen konnte, wo er wegen des Krieges hatte aufhören müssen. Notwendig war es jetzt, überhaupt eine Arbeit zu bekommen, um das Überleben sichern zu können. Trotzdem entschloss sich Arno Schmidt 1947, mitten in den Nachkriegswirren, fortan ein Leben als freier Schriftsteller zu führen. Der Beruf des Dichters galt auch damals schon als eine brotlose Kunst. Was war das also für ein Mensch, der sich für ein – aller Wahrscheinlichkeit nach – unsicheres Dasein entschied und damit den Verzicht auf viele notwendige oder auch nur angenehme Dinge in Kauf nahm?

Für Arno Schmidt, der ein akribischer Mensch war, geriet nach dem Krieg die Frage nach einer neuen Sprache, nach einer ganz anderen Form, die Wirklichkeit genauer zu beschreiben, bald in das Zentrum seines Denkens. Er begann, sich mit der Erstellung neuer Prosaformen zu befassen und diese Theorien in seinen Schriften anzuwenden. Die Beschäftigung damit muss ihm so wichtig gewesen sein, dass alle anderen Lebensbedürfnisse zweitrangig wurden. Gesellschaftliches Leben interessierte ihn sowieso nicht. Den Literaturbetrieb lehnte er für sich ab. Er führte – soweit man das von einem verheirateten Menschen sagen kann – ein Leben als Einzelgänger. Das sollte sich in seinen späteren Jahren noch verstärken.

Tatsächlich ließ der erste literarische Erfolg nicht lange auf sich warten: 1949 kam Leviathan, eine Erzählung, die er 1946 geschrieben hatte, bei Rowohlt heraus. 1950 erhielt Schmidt dafür den Mainzer Literaturpreis. Die Würdigung galt der Sprachkraft und formalen Innovation des Werkes. Es wurden keine 1000 Exemplare verkauft und seine wirtschaftliche Situation wird sich dadurch wohl kaum gebessert haben. Aber es war ein erster Schritt. In den folgenden Jahren erschienen Schwarze Spiegel, Aus dem Leben eines Fauns, Seelandschaft mit Pocahontas, Kosmas und 1956 der Roman Das steinerne Herz. In dieses Werk ist Schmidts Prosatheorie des ‚musivischen Daseins‘ voll eingeflossen.

Im Folgenden soll untersucht werden, was das ‚Andere‘ an Arno Schmidts Prosa ist. Insbesondere interessiert hierbei die Frage, wie weit es dem Autor möglich gewesen ist, sich von ‚herkömmlicher‘ Schreibweise zu befreien und damit – das war ja wohl bei allen Schriftstellern der jungen Generation und auch bei Arno Schmidt das Eigentliche, das Erbe der Vergangenheit abzuschütteln, um mit unverstelltem Blick die Gegenwart wahrzunehmen.

Arno Schmidt wollte seine in Berechnungen (I und II) und später in Berechnungen III niedergelegten Betrachtungen als eine Weiterentwicklung hergebrachter Prosatheorien verstanden wissen. Er unterschied Bewusstseinsprozesse der Erinnerung und der Gegenwart sowie das Gedankenspiel.

Die Bewusstseinsprozesse der Erinnerung haben nach Schmidt eine typische Struktur: Am Anfang stehen einzelne, sehr helle Bilder, die er ‚Fotos‘ nennt. Um diese herum gruppieren sich dann „im weiteren Verlauf der ‚Erinnerung‘ ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (‚Texte‘)“ (Berechnungen I). Das Ergebnis sind Foto-Text-Einheiten. Ein Beispieltext Schmidts, der nach dieser Methode entstand, ist Seelandschaft mit Pocahontas.

Bewusstseinsprozesse der Gegenwart sieht Schmidt dagegen anders verlaufen. Sie bilden keinen Erlebnisstrom. „Die Ereignisse unseres Lebens springen vielmehr. Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht. Von Mitternacht zu Mitternacht ist gar nicht ‚1 Tag‘ sondern ‚1440 Minuten‘ (und von diesen sind wiederum höchstens 50 belangvoll!). Aus dieser porösen Struktur auch unserer Gegenwartsempfindung ergibt sich ein löcheriges Dasein ... Der Sinn dieser ‚zweiten‘ Form ist also, an die Stelle der früher beliebten Fiktion der ‚fortlaufenden Handlung‘ ein der menschlichen Erlebnisweise gerechter werdendes, zwar magereres, aber trainierteres Prosagefüge zu setzen“ (Berechnungen I). Ein Beispieltext hierzu ist Das steinerne Herz.

Die dritte Versuchsreihe nennt Schmidt ‚Gedankenspiel‘. Hier geht er davon aus, dass bei jedem Menschen die objektive Realität ständig von Gedankenspielen überlagert wird. Wichtigstes Merkmal ist also die ‚doppelte Handlung‘. Ein Textbeispiel liegt mit Kaff auch Mare Crisium vor.

Allen drei Theorieüberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde, dass für das erzählende Ich keine Darstellung in Handlungszusammenhängen möglich ist. „Die strukturbestimmenden Merkmale der den Versuchsreihen zugrundegelegten Bewußtseinstatsachen sind im wesentlichen Partikularität und Diskontinuität“ (Bull).

Schmidt nannte seine Erzählweise ‚musivisch‘. Sein Vorgehen ist die Zerlegung der Geschichte in kleine und kleinste Teile. Jeder Abschnitt steht für eine momenthaft fixierte Einzelsituation im Tagesablauf des Erzählers. Eindrücke, Gedankenblitze, Assoziationen, Einfälle des Ich-Erzählers bilden die stenogrammartige Struktur. Die dargestellte Situation zeigt dem Leser ein unvollständiges, unrundes Bild. Es gibt keine Überleitungen. Es liegt keine fortlaufend erzählte Geschichte vor mit verbindenden, aufbauenden Elementen, vielmehr ein Text, der sich aus einer Abfolge von Einzelsituationen zusammensetzt.

Tagesbegebenheiten werden zu kleinsten bedeutungstragenden Momenten fokussiert, die alle zusammen das formen, was Arno Schmidt das ‚beschädigte Tagesmosaik‘ nennt. So ist es denn auch nicht die Handlung, die im Mittelpunkt steht. Wesentlich sind für Arno Schmidt vielmehr Zustände und Denkweisen. „Nicht Handlung, sondern Zustände, nicht Entwicklungen, sondern Momente, nicht metaphysische Dimensionen, sondern Vermessung der Realität sind das Erzählthema Arno Schmidts“ (Bull). Schmidt will eine Bestandsaufnahme der Welt, eine Bewältigung der Welt durch ihre Beschreibung. „Wichtiger als ihr Wesen sind die Oberflächen der Dinge“ (Schmidt, Nebenmond und rosa Augen). Ein erstaunlicher Standpunkt für einen Schriftsteller. Vermutet man in ihm doch zuerst denjenigen, der die Dinge und Zustände unter der Oberfläche sucht, sie auf künstlerische Weise beschreibt und auf diese Weise Klarheit und Wahrheit findet.

Bei Schmidt ist der Beschreiber der Welt derjenige, der ihre Fakten sammelt, sie benennt, notiert, sortiert, katalogisiert. Mit diesen Tätigkeiten wird Realität aufgespürt und Wahrheit aufgezeigt. Beide bedürfen keiner Interpretation. Diesem Typus Mensch, zu dem Schmidt natürlich selbst gehörte, begegnet man in seinen Werken häufig.


Das steinerne Herz

Beim ersten Blick in den Roman „Das steinerne Herz“ fallen äußere Dinge ins Auge, die der Leser so nicht gewöhnt ist: Absätze dienen im allgemeinen der Gliederung eines Textes in inhaltlicher und gedanklicher Weise. Bei Arno Schmidt wird dem Absatz als solchem eine besondere Gewichtung zugewiesen durch die Methode der doppelten Hervorhebung: Zum einen ist die jeweils erste Zeile stets nach links herausgerückt, zum anderen sind die ersten Wörter (oder auch nur das erste Wort allein) kursiv gedruckt. Absätze sind voneinander meistens durch eine Leerzeile getrennt – aber nicht immer. Sie bilden situationsabhängige Einheiten, die wie ein Mosaik vom Leser zusammengefügt werden müssen.

Die Satzzeichen kommen an manchen Stellen ungewöhnlich gehäuft vor. Sie scheinen sich zu verselbstständigen und ganze Sätze ersetzen zu können. Ein besonders auffälliges Beispiel findet man dort, wo der Ich-Erzähler Walter Eggers in der Ahldener Apotheke nach dem Weg zu Thumanns fragt: „ Ä-könn' Sie mir vielleicht sagen ...? “ : „ , ; . — : ! — : !! “

Doppelpunkte stehen oft an Stellen, an denen ein mündlicher Erzähler innehalten würde, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf das Kommende zu lenken. Es folgt eine Erläuterung oder eine Begründung des zuvor Gesagten. Beispiele:

       „Nu komm, Friede! : wir müssen morgen zeitig raus.“

       Endloser Strom : Autorassen : ungefähr so verschieden wie Hunde

Runde und eckige Klammern sind häufig zu finden. Bei Texten in runden Klammern handelt es sich gewöhnlich um Einschübe: Einfälle, die anders nicht in das Satzgefüge passten, die aber wegen ihrer Randfunktion keinen eigenständigen Satzstatus erhalten sollten. In eckigen Klammern stehen oft Zitate, Namen oder Begriffe, die für Eggers eine besondere Bedeutung (positiver oder negativer Art) haben. Manchmal handelt es sich auch um ironische Einschübe. Beispiele:

       Die Doublette des < Ringklib >;

       wieviel Worte mag mein Maulgeist so im Leben < gebildet > haben?!

Arno Schmidts Texte erschließen sich dem Leser nicht leicht. Weckt die äußere Form schnell Interesse und scheint die Methode der hervorgehobenen Absätze das Lesen zu erleichtern, so lassen doch fremde Vokabeln und ungewohnte Bilder rasch ins Stocken geraten. In Das steinerne Herz begegnet man schon in den ersten acht Absätzen einem „Visierei“, zwei „Augenkernen“, einem „Luftteich“, einem „Windbefehl“ und einer Anzahl von „ Blechschlangen“. Volkswagen „rädertierten“, Bäume schwanken „wasserpflanzen“, sein linker Schuh betrachtet den Erzähler „kühl aus seinen Lochreihen“, Bäume haben „ihre Arme stoisch verschränkt“, werfen dann aber einander die „Köpfe“ zu, die Straße „rutscht“ vor Eggers her.

Was geschieht hier tatsächlich? Der Erzähler greift auf das Bild des Lebens im Wassertropfen zurück und setzt den Wassertropfen mit unserer Welt gleich. Dabei gebraucht er eine Reihe von Wörtern aus dem Gebiet der Biologie: Augen, Kerne, Plasma, Haut, Zelle, Fangarme, Wimpern, Rädertierchen, Schirmqualle, Stickstoff, Luft, Teich, Bäume, Wasserpflanze, Pferd, Blutstrom, Glieder, Daumen, Schlange, Rachen. Er verwendet die Wörter, um menschliches Treiben zu schildern, wendet sie aber auch auf unbelebte Dinge an.

Die Situation kann so verstanden werden: Dem Erzähler begegnen im Regen nacheinander ein blau und ein strohgelb gekleideter Zweiradfahrer. Die Räder von Volkswagen quälen sich durch das Nass. Eine Person mit Regenschirm geht vorüber. Der Regen durchdringt alles. Die Menschen leben am Grunde eines „Luftteiches“, das heißt, ihr Lebensraum ist normalerweise von Luft umgeben. Aber jetzt sind sie in Luftnot. Die Bäume werden Wasserpflanzen gleich. Sie triefen schwer vom Regen und wiegen sich mit dem Wind wie Wasserpflanzen mit der Strömung. Die Glieder und die Kleidung Eggers scheinen ein Eigenleben zu führen: Sie hängen und stehen an ihm herum. Nur wenn „man wollte“, bewegte sich ein Daumen. Kühl aber fantasiereich beobachtet Eggers und kühl blickt sein linker Schuh zurück. Die Regenrinnen erscheinen ihm wie Schlangen, die aus ihren Enden das Wasser, das sie aufgenommen haben, wieder erbrechen.

Was macht Arno Schmidt, dass wir seine neuen Wörter verstehen können, wenn wir uns einmal eingelesen haben? Welche Art von Wörtern erschafft er? Wie sind seine Bilder zu verstehen?

Am häufigsten finden sich neue Substantive und Adjektive. Aber auch viele Verben sind neu erfunden. Die Bedeutung liegt nicht immer direkt auf der Hand wie beispielsweise bei der „Motorrollerin“. Vieles erschließt sich aber aus dem unmittelbaren Zusammenhang. Dass die Bäume auf einen „Windbefehl“ hin einander die ganze Chaussee entlang die „Köpfe“, also die Kronen, zuwerfen, ist ein anschauliches Bild. Und wenn Eggers sagt, seine „ Gedankenwanne“ sei ganz leergespült, so fällt es nicht schwer, dahinter seinen Kopf zu vermuten.

Schön ist auch das Bild: „Der Chauffeur sucht in sich den Schlüssel“. Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er in allen möglichen äußeren und inneren Taschen gräbt und ist erstaunt, in welchen Tiefen noch Höhlen zu sein scheinen.

Wenn es heißt, „ein Motorrad schleppte Schallkugeln vorbei“, muss man schon ein wenig länger in sich lauschen, bis das rasch aufeinanderfolgende Geknatter im Inneren auftaucht. Der lange Teich, der sich „an den Baumrand gelagert“ hatte und „seinen grün behaarten Bauch“ sonnte, lässt langsam das Bild einer schilfbestandenen Insel im Kopf erstehen. Und immer wieder kommt es zu Aha-Erlebnissen, wenn man ein Bild ‚geknackt‘ hat.

Die neuen Substantive, die Schmidt verwendet, setzen sich in der Regel aus zwei bekannten zusammen. So entsteht aus „ Braten“ und „Auge“ das „Bratenauge“. Wenn Eggers ein Rind, das zum Fleischer getrieben wird, ansieht und gleichzeitig dabei an den Braten denkt, der demnächst in irgendeiner Pfanne schmoren wird, dann steht dieses Bild vor seinen Augen oder in seinen Augen. Er blickt also mit diesen „Bratenaugen“ das Rind an.

Ähnlich verhält es sich mit „Beinstämmen“. An der deutsch-deutschen Grenze stehen sich die Reisenden während der Kontrolle die Beine in den Bauch. Der Autor nennt sie einen Wald aus Beinstämmen, was deutlich macht, dass es viele sind und dass es nicht vorangeht. Die Wartenden meinen, langsam Wurzeln zu schlagen.

Die neuen, durch Komposition gebildeten Substantive verlangen vom Leser, die Verkürzung wieder aufzulösen, die stattgefunden hat, wenn der Autor eine Situation, zu deren Beschreibung es eines ganzen Satzes bedurft hätte (oder doch wenigstens eines Vergleiches), in einem einzigen Wort zusammengefasst hat. Wenn sich Line mit dem Rücken gegen Thumanns „ Brustwand“ lehnt, so versteht der Leser intuitiv, dass sie an Thumanns breiter Brust Halt und Schutz findet. Diese Brust wie eine Wand lässt Line geborgen stehen und in die Zukunft blicken.

„Wolkenschollen“ am Himmel lassen das Bild von Erdschollen vor Augen auftauchen und machen die Art der Wolkenformation unmittelbar deutlich. Einen „Wolkenzeppelin“ kann sich jeder direkt vorstellen, der weiß, wie ein Zeppelin aussieht und der Spaß daran hat, den Wolken bei ihrer nie endenden Formenbildung zuzusehen.

Andere Wortneuschöpfungen – vor allem Adjektive, aber auch Verben – entstehen ebenfalls als Kompositionen bekannter Wörter oder indem ein Wort der einen Wortart einfach als eines einer anderen Verwendung findet. (Verbalisierung, Adjektivierung). Ein „laubumschwärmter“ Stamm steht sicherlich umgeben von seinen dichten, im Winde heftig bewegten Blättern. „Slawischflink“ zieht zwei Adjektive zu einem einzigen zusammen und suggeriert damit eine enge Verbindung beider Eigenschaften.

Dass Volkswagen sich wie Rädertiere (das sind kleinste mehrzellige Lebewesen) durch das Wasser bewegen, also „ rädertieren“, wurde bereits erwähnt. Eggers Kreislauf, sein „Blutstrom“, „golft“. Der Golfstrom führt im Verhältnis zu seiner Umgebung wärmeres Waser mit sich. Entsprechend ist „golfen“ als das Pulsieren einer warmen Flüssigkeit zu interpretieren.

Wenn Menschen nicht singen, sondern „liedern“, so ist das ohne Schwierigkeiten sofort zu verstehen und man kann sich fragen, warum es nicht schon immer so hieß. Eine „zue Tür“ ist uns ebenso direkt vertraut. Diese Ausdrucksweise für eine geschlossene Tür taucht in der scherzhaften Umgangssprache ebenso auf wie etwa der „abe Arm“. Hier dürfte Arno Schmidt einen Griff in die Kiste mit den zum Teil regional gefärbten Ausdrücken getan haben.

Wenn Eggers „appretierte Luft“ wahrnimmt, leuchtet das nicht unmittelbar ein. „Appretiert“ lässt eher an steife Wäsche denken als an Luft. Diese appretierte Luft, so wird erläutert, liegt dicht über dem Rasen. Da die Szene nach dem ausgiebigen Regen spielt, ahnen wir feuchte, schwere Luft. Das wird uns hier auch tatsächlich bestätigt: Bodennebel ist gemeint.

Am schöpferischsten erscheint Arno Schmidt dann, wenn er die Dinge mit fremd anmutenden Begriffskombinationen bezeichnet. „Dornige Sterne“ lassen noch leicht an die funkelnden Strahlenbündel am Nachthimmel denken oder vielleicht eher noch an die symbolhaften fünf- oder mehrzackigen Gebilde auf Kinderzeichnungen. Wenn der „Abend in der Erde versinkt“, ist etwas Späteres noch als der Sonnenuntergang gemeint. Es ist der Eintritt der Nacht mit dem allmählichen Verschwinden der Dämmerung.

Schwieriger wird es, wenn die Nacht „ihren einen Goldzahn“ zeigt oder über die „halbe Prüflampe“ ein Schleier mit Tupfen in großen Bahnen vorbeigezogen wird. Der eine Goldzahn der Nacht muss der Mond sein. Man kann ihn sich vorstellen, wie er in der dunklen Rachenhöhle der Nacht strahlt. Ist der Schleier mit den Tupfen ganz banal nur die Gardine vor der Dachluke oder ist es der mit Sternen übersäte Nachthimmel? Aber wieso wandern die Sterne stundenlang und der Mond, die „halbe Prüflampe“, anscheinend nicht?

„Die Sonne machte mir gleich eine flüssige Maske. Beim Umsehen wickelte sich mir die Landschaft ums Gesicht“. Was geschieht hier? Auf welche Wege müssen wir unsere Fantasie schicken, um das zu verstehen? Oder müssen wir einfach nur hart am Wort bleiben? Eggers ist schon mit einer Maske in Ahlden eingezogen, denn er will seine wahren Absichten verbergen. Schmidt hätte auch schreiben können: „Die Sonne stach vom Himmel, und auf der schlammigen Nässe des Feldweges rann mir bald der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Ich ließ meinen Blick über die Landschaft schweifen“.

Handelnder und Duldender werden strikt getrennt: Eggers tut garnichts. Die Sonne verpasst ihm die flüssige Maske. Er schwitzt sozusagen passiv. Es sind nicht seine Augen, die die Landschaft abtasten. Es ist die Landschaft, die sich um Eggers Gesicht wickelt. Er, der sich einmal als „Augentier“ bezeichnet, wird von dem Gesehenen beherrscht, überwältigt, eingewickelt.


III     Der fremde Blick

Arno Schmidt verleiht Eggers eine ganz besondere Fähigkeit, die Dinge in seiner Umgebung wahrzunehmen. Er beschreibt deren Oberflächen, indem er versucht, so viel wie möglich von ihrer tradierten Bedeutung und Funktion zu vernachlässigen, zu übersehen. Damit lässt er sie neu mit einem eigenen Anspruch auf Wirklichkeit erscheinen. Aus jedem ungewohnten Bild spricht der Versuch, einen neuen Blickwinkel einzunehmen, die Dinge aus sich heraus auf den Betrachter wirken zu lassen. Dabei verlieren sie manchesmal ihre gewohnten Bezeichnungen und müssen sich neue Namen und Umschreibungen gefallen lassen. Besonders der Mond und Körperteile sind hiervon betroffen. Beispiele: In erster Linie sind es Eggers Augen und Ohren, die ihm und uns die Welt mitteilen. Was immer Eggers Augen sehen, es liegt außerhalb des gewohnten Zusammenhanges der Welt. Den Dingen der Natur, eigenen und fremden Körperteilen werden Absichten und Zwecke unterstellt, es werden ihnen Tätigkeiten zugewiesen, die sie als willentlich Handelnde zeigen. So flattert die Wäsche nicht einfach auf der Leine. Sie turnt. Ein Stern erscheint nicht deshalb blinkend am Nachthimmel, weil sich zwischen ihm und Eggers eine Atmosphäre befindet. Er scheint vielmehr eine Botschaft morsen zu wollen:

       „kurzkurz : lang : kurz / Lang : kurzkurz ! ( Also < F > und < D >, wenn ich nicht        alles vergessen habe ? ...“

Beim Baden im Teich nimmt er die nackten Schwimmerinnen nur an ihren aus dem Wasser aufblitzenden Körperteilen wahr: „ Eine Anzahl Köpfe trieb senkrecht darauf herum ... bleiche Gesichtsbreite; Schnaufnase; bei harten Augenlöchern. Alle Augenblicke sprangen ihre Arme dazwischen ( dann warf sie sich gar auf den Rücken, und ließ sich nur noch von den strammen Brustkugeln über Wasser halten ...“

Wenn wir uns auf seine Sehweise einlassen, verstehen wir, dass es genau das ist, was Eggers in dieser Situation wahrnimmt. Er sieht keine ganzen Körper. Nacheinander geraten ihm Köpfe, Gesichtsfläche, Nase, Augen, Brüste vor seine Augen. Er nimmt die Schwimmbewegung der Frau wahr als ein alle Augenblicke erfolgendes Hochspringen der Arme, welches ihr Gesicht jedesmal momenthaft verdeckt. Diese Stelle ist ein gutes Beispiel für eine „Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten“, für die poröse Struktur unseres „löcherigen Daseins“ (Berechnungen I).

Der ungewohnte, der fremde Blick ist aber auch der Blick einer Person, die sich selbst nicht immer als Ganzes, als eine Einheit wahrnimmt. Eggers sagt „ich“ am leichtesten, wenn er mit seinen Staatshandbüchern beschäftigt ist. Im banalen Alltag versteht er sich als kühler Beobachter und gibt seine Ansichten dem Leser selbstbewusst kund. Was sich ihm dagegen sinnlich darbietet, erfahren wir in seinen Gesprächen mit und über die beteiligten Körperpartien:

       „Also : < Aufstehen ! > : ich gab den Befehl weiter — nach Sekunden regte sich        unten ein Fußgreis : eingeschlafen war das Biest ! (Kommt gar nicht in Frage : ich hab        auch nicht schlafen können ! ... )“.

Oder er agiert mit ihnen auf ungewohnte, aber anschauliche Weise: „Ich ergriff ihre Augen mit den meinen“. Hier wird über Körperteile wie über Personen gesprochen. Das zieht sich durch den ganzen Roman hin. Besonders fällt immer wieder die Unterscheidung Eggers' zwischen „ich“ und „moi“ auf, wobei „moi“ sein Geschlechtsteil meint, das ebenso wie seine Augen, seine Füße oder auch Körperteile anderer Personen, ein eigenes Leben mit eigenen Ansprüchen und Absichten zu führen scheint.

Eggers und – ohne hier Ich-Erzähler und Autor gleichsetzen zu wollen, kann man doch die charakterliche Ähnlichkeit der beiden nicht leugnen – Arno Schmidt schauen auf die Welt wie Bewohner eines anderen Sterns, die sich zu uns verirrt haben. Es ist der Blick des Fremden, der mit anderen Lebenserfahrungen, als wir sie haben, diese Erde betritt und mit einem kühlen Spieltrieb ausgestattet, assoziierend das Vorgefundene analysiert. Das ‚Spiel‘ geschieht nicht um seiner selbst willen. Es dient dem Erkennen von Realität. Es ist ein Spiel mit vorgefundenem Material, ein riesiges Puzzle aus Augenblicken, aus Geräuschen, Eindrücken, das sich allein durch die Beschreibung seiner Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügt.

Der Roman wechselt zwischen Beschreibung, Zitat, szenischer Darstellung, Reflexion, Impression und spiegelt damit das Uneinheitliche des Lebens wider. Der Mensch ist an einem Tag den unterschiedlichsten inneren und äußeren Einflüssen ausgesetzt und agiert und reagiert auf verschiedenste Weise. Nach Arno Schmidt scheitert der Mensch, „der sich einer unabsehbaren, unentwegt widersprüchlichen und deswegen am Ende unentzifferbaren Menge von Eindrücken und Einsichten ausgesetzt sieht, schließlich an der Aufgabe ... eine neue, eine sinnvolle Synthese auf eben dieser ideologischen Basis herzustellen“ (Huerkamp). Mit dem Roman Das steinerne Herz will Schmidt die Wirklichkeit aufzeigen und mit seinen stilistischen Mitteln eine Analogie zu dieser Wirklichkeit herstellen.

Wieso beschäftigt sich ein Mensch wie Eggers mit Staatshandbüchern? Was gewinnt er aus diesem Tun? Eggers selbst, nachdem er bei seinen Forschungen auf einen ihm bisher unbekannten Namen gestoßen ist, erläutert, es handele sich bei ihm um ein Unvermögen, davon ablassen zu können, „schicksalhaften Verflechtungen gemäß Satz vom Grunde, Paragraph so und so, die Stelle wo es steht“ nachzugehen. Er nennt eine „wahnsinnige Lust an Exaktem : Daten, Flächeninhalte, Einwohnerzahlen“. Eggers bezeichnet sich selbst als „präziser Abergläubiger“.

Das erinnert sehr stark an seinen Autor. Arno Schmidt, zeit seines Lebens ein Sammler von Daten, Fakten, Zahlen, Belegen, hätte es für sich nicht anders ausdrücken können. Wenn Eggers die Einführung der Staatshandbücher etwa im Jahre 1732 als den „Beginn der Erziehung des Untertanen zum Bürger“ bezeichnet, begründet er dies damit, dass nun der Untertan zum ersten Mal eine Übersicht über sein Ländchen und einen Einblick in dessen Organisation gewinnen konnte. Der Leser damals „sah, wie der bürgerliche Beamte ganz andere, schlechtere, Titel führen mußte, als der gleichbeschäftigte Adlige; hatte zum erstenmal, statistische Angaben über Größe und Bevölkerung der Provinzen : konnte also ökonomischen Fortschritt oder Rückgang ablesen; nicht minder, als etwa die Hypertrophie des Militärapparates : den er mit seinen mühsamen Steuern finanzierte !“.

Die Beschäftigung mit historischen Fakten und das Sehen und Wahrnehmen der umgebenden Welt weisen bei Eggert eine auffallende Entsprechung auf: Den jeweiligen ‚Fundstücken‘ wohnt immer ihre komplexe Geschichte inne. Vergangenheit und Augenblick bergen sie auf ähnliche Weise. Aber während sich beim Erforschen vergangener Ereignisse das Puzzle durch mehr Fundstücke immer deutlicher zeigt, zerfällt im Gegensatz das Gegenwärtige (wenn man wie Eggers an es herantritt) zu immer mehr Einzelteilen. Dabei kann die Deutung der Details zu völlig neuen Sichtweisen führen.

Arno Schmidt strebt eine Dichtkunst an, die den naturwissenschaftlichen Forderungen nach Exaktheit, Überprüfbarkeit, Realitätsnähe standhält. Eggers lässt er feststellen: „... die Aufgabe eines Dichters als Beobachters und Topographen aller möglichen Charaktere und Situationen wäre doch wohl unter anderem auch, diese dann darzustellen wie solche wirklich sind; und nicht wie sie sich etwa in den im CVJM vereinigten Gemütern malen mögen ! Ist denn die getreue Schilderung einer Zeit mit ihren typischsten und feinsten Zügen nicht mindestens ebensowichtig, wie meinetwegen die präzise und möglichst vollständig angestrebte Beschreibung aller Arten von Flöhen, Syphilisgeschwüren, oder Heiligenlegenden?“. Eine gewisse Verbitterung klingt aus den anschließenden Zeilen: „(Aber die Menschen wollen ja lieber belogen sein, als Auskunft über sich haben ! ) —“.

Es ließen sich Parallelen aufzeigen zwischen Eggers, der Situation der Menschen im frühen Nachkriegsdeutschland sowie der von Arno Schmidt in diesem Roman verwendeten Prosaform. Die Beschäftigung mit den Staatshandbüchern bildet für Eggers die „Nabelschnur“, mit der alleine die Welt noch an ihm hängt. Hierin steckt sein Herz begraben. Durch sie ist sein ansonsten „steinernes Herz“ noch lebendig. Diese Nabelschnur verbindet ihn mit dem Ursprünglichen. Sie führt ihn zu seinen Wurzeln. Arno Schmidt hat mit Das steinerne Herz einen Roman über einen Menschen verfasst, der versucht, aus den spärlichen Zeugnissen der Vergangenheit ein Schicksal aufzuklären, Zusammenhänge herzuleiten und damit Wahrheiten zu untermauern. Dem Leser wird bei der Lektüre dasselbe Vorgehen zugemutet: Jeder Absatz, jede Szene steht im kleinen dafür, was im ganzen Roman geschieht: Blitzartige Eindrücke werden in ihrer Vereinzelung festgehalten und beinahe unverbunden nebeneinander gestellt. Die Arbeit, diese einzelnen Mosaiksteinchen zusammenzusetzen, wird dem Leser überlassen, dem somit die Rolle eines Forschers und Textarchaeologen zukommt.


IV     Literatur

Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Frankfurt am Main 1985
Bull, Reimer: Bauformen des Erzählens bei Arno Schmidt. Bonn 1970
Huerkamp, Josef: Materialien und Kommentar zu Arno Schmidts Roman „Das Steinerne Herz“. edition text + kritik

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