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Fortschritt

Eine Geschichte aus der Zukunft

© Christel Baumgart 2023

Guten Abend, wir berichten aktuell aus unserem Studio in Berlin um 19 Uhr Ost-West-Zeit.

Professor Mischnich ist tot. Wie uns die Staatspolizei soeben mitteilte, wurde Alexander Mischnich, der Entdecker des Lebensdauer-Gens heute in einem Wohnkomplex nahe Stuttgart tot aufgefunden. Ersten Erkenntnissen zufolge handelt es sich um Selbsttötung.
Mischnich hatte vor mehr als zwei Jahrzehnten weltweit Aufmerksamkeit erregt, als er angeblich bahnbrechende Ergebnisse zum Lebensdauer-Gen veröffentlichte, die sich jedoch im Nachhinein als wissenschaftlich nicht nachprüfbar erwiesen. Nachdem ihm daraufhin die Lehrlizenz entzogen worden war, verließ Mischnich unser Land und fand in Bayern Exil, wo er beabsichtigte, seine wissenschaftlichen Arbeiten fortzusetzen.
Vor vier Monaten hat die Königlich-Bayerische Innenkommission den Professor nach Deutschland abgeschoben, damit er seine Rentenphase hier ableistet. Da Mischnichs Arbeitskonto durch seine Auswanderung nach Bayern bei uns ein großes Defizit aufwies, sollte er in die Stuttgarter Strafanstalt für Abweichler eingewiesen werden. Dem Professor war es allerdings gelungen, sich dem Amtszugriff zu entziehen. Weitere Nachrichten ...

Ach nein! Der Mischnich hat sich umgebracht! Den kennt doch heute kein Mensch mehr. Wenn ich daran denke, wie damals die Zeitungen vollstanden mit Berichten über seine Forschungen. Alles unverdautes Zeug. Kaum jemand hat doch zu der Zeit auch nur annähernd verstanden, worum es wirklich ging. Als ich ihn kennenlernte, war er Leiter der Abteilung (Z) Genkarte am Institut für Biotechnik in Heidelberg. Ich hatte einige Male mit ihm zu tun, wenn er plötzlich bei uns in der Tür stand und seine Proben selbst abholen wollte, weil er dem Kurier in heiklen Angelegenheiten misstraute. Er hielt sich niemals länger auf als unbedingt notwendig. Auf uns wirkte er verschlossen und ehrgeizig. Ein stiller Macher, bei dem man sich vorstellen konnte, dass er einmal Karriere machen würde.

Und eines Tages war es dann auch tatsächlich so weit. In Diskurs, einer der damals zahlreichen sogenannten Informationssendungen, die in Wahrheit Klatsch auf höherem Niveau betrieben, trat Mischnich abends zur besten Sendezeit auf und verkündete, er habe berechtigten Anlass zu der Vermutung, die Lebensdauer eines jeden Menschen sei bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt festgelegt. Seinen Untersuchungen zufolge, die er an über siebzigjährigen lebenden Personen sowie an verstorbenen Kleinkindern durchgeführt hatte, zeigten, dass es zum jeweils erreichten Lebensalter eine ganz bestimmte Entsprechung auf einem Abschnitt der DNS gebe. Er sagte damit eigentlich nicht weniger, als dass es in naher Zukunft möglich sein würde, durch eine einfache Blutentnahme für jedes Individuum dessen erreichbares Alter vorauszusagen.

Die Meldung schlug wie eine Bombe ein. Am anderen Morgen war sie das Hauptthema in sämtlichen Medien: „Todestag für jeden Menschen vorhersagbar!“, „Wie lange lebt mein Baby noch?“, „Lebenstest für alle?“, „Todkranker fordert: Ich will wissen, wie viel Zeit mir noch bleibt!“. Es wurden Stimmen laut, die forderten: „Die Oberste Lenkerin soll sich testen lassen!“ oder: „Kein Geld mehr für überflüssige Operationen.“ Die Staatskirche verlangte das sofortige Einstellen von Forschungen auf dem Gebiet der menschlichen DNS.

Mischnich zeigte sich von dem ganzen Rummel anfangs unbeeindruckt. Er veröffentlichte seine Forschungsergebnisse im Wissenschaftlichen Journal und bekräftigte darin seine Entdeckung eines „Lebensdauer-Gens“. Er reiste von Kongress zu Kongress, von Talk-Show zu Talk-Show und ließ sich für die Leserschaft von populären Online-Magazinen interviewen. Auf seinem eigenen Kanal Mischnich erklärt hielt er Vorträge in einfacher Sprache, damit jeder Mensch an seiner Entdeckung teilhaben konnte.

In kürzester Zeit hatte er die halbe wissenschaftliche Welt gegen sich aufgebracht. Die andere Hälfte verlangte nach fundierteren Daten. Mischnich weigerte sich schließlich, über die eigentlichen Ziele seiner Arbeit zu berichten mit der Begründung, es handele sich um Grundlagenforschung. Man warf ihm unwissenschaftliche Methoden vor, wies ihm einige kleinere Unkorrektheiten nach und in kurzer Zeit war der Professor wieder aus den Schlagzeilen verschwunden.

Was von der Affäre blieb, war das von Mischnich erfundene und immer wieder gebrauchte Wort „Letalzeit“, das die für einen Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt noch verbleibende Lebenszeit bezeichnet. Es wurde zum Unwort des Jahres gewählt und verschwand doch nie wieder aus unserem Wortschatz.

Das mag alles so vor circa zwanzig Jahren gewesen sein. In der Folgezeit bekamen die Menschen in unserem Land ganz andere Probleme, durch die die Gentechnik ihre Aufmerksamkeit verlor: die zunehmende Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende materielle Not, die rigorose Zusammenstreichung der Ausgaben auf dem Bildungssektor, die massenhafte Schließung der Kindergärten und Horte (mit der Begründung, statistisch gesehen habe jede Familie mindestens eine arbeitslose Person in ihren Reihen, die die Betreuung der Kinder übernehmen könne). Damals empörten wir uns in der Familie, mit Kollegen im Betrieb, mit Freunden in der Kneipe. Doch niemand ging mehr auf die Straße, um zu demonstrieren. Die letzten, die das getan hatten, waren ein paar Windbauern gewesen, die für sich eine Arbeit im neugeschaffenen Windradmuseum in Rheine forderten, nachdem endlich auch der letzte subventionierte Windpark stillgelegt worden war.

Ich gehöre zu der Generation, die aufwuchs, als es in unserem Lande — zuerst nur für wenige bemerkbar — anfing, wirtschaftlich bergab zu gehen. Mir war früh klar, wo meine Interessen lagen und ich war heilfroh, dass ich mir beruflich einen sicheren Platz erkämpft hatte, bevor ein Studium nur noch für Millionärsnachwuchs finanzierbar wurde. Ich habe nie geheiratet und mich nie in die Politik eingemischt. Nach dem Praktikum hatte ich Glück und konnte sofort bei LabEur anfangen. Noch nicht mein eigentliches Gebiet, aber nahe daran. Nach zwei Jahren dann — endlich! — wurde ich in die Abteilung für Interdisziplinäres übernommen und konnte mich von nun an ausschließlich mit dem befassen, was ich als meine eigentliche Aufgabe ansah.

Das war zu der Zeit, als kein Mensch mehr über Mischnich sprach und die kleinen Erfolge in der Genforschung kaum noch jemanden interessierten. Wir kannten damals an die 15 000 Krankheiten, die auf das Fehlen oder den Defekt eines einzelnen Gens zurückzuführen waren. Die Zahl derjenigen davon, die wir durch Gentherapie wirklich heilen konnten, und bei denen es nicht — wie leider oft zu beobachten — zu unbeabsichtigten folgenschweren Veränderungen gekommen war, blieb dagegen verschwindend klein.

Auch auf meinem Gebiet — Untersuchungen von Fehlfunktionen bei Enzymen — gab es kein Vorankommen. Fast täglich entdeckten wir neue Einzelheiten und gleichzeitig taten sich wieder Abgründe mit neuen Fragen nach Zusammenhängen auf. Wir wurden mit Informationen zugeschüttet und jeder Versuch, eine Ordnung zu schaffen, schien zum Scheitern verurteilt. Es war tausendmal schlimmer als die Sache mit der Nadel im Heuhaufen: Ein Puzzle aus mehrdimensionalen Teilen, alle Seiten gleich bedruckt und passend nur zu genau einem ganz bestimmten Zeitpunkt — so habe ich es damals in einer Fachzeitschrift gelesen und das konnte ich nur bestätigen. Du fängst als junger Mensch hoffnungsvoll an in der Gewissheit, eines Tages wird sich alles an seinen Platz fügen. Dann merkst du, wie die Jahre zerrinnen und du kein Stück vorangekommen bist. Eines Tages erkennst du, dass deine Zeit nicht ausreichen wird. Niemandes Zeit wird das. Ein gelöstes Problem birgt immer mindestens zwei neue.

Ach ja … Wo war ich stehengeblieben? Bei der allgemeinen Mutlosigkeit, die nicht nur die wissenschaftliche Welt in der Zeit vor der Großen Wende ergriffen hatte. Wie anders war doch die Stimmung noch zum Beginn der letzten Dekade davor gewesen! Ich kann mich noch gut an die Euphorie erinnern, als man allgemein glaubte, mit der Gentherapie ließen sich in wenigen Jahren schlimme Peiniger der Menschheit ausmerzen. Nie wieder Alzheimer, Mukoviszidose, Aids, Arteriosklerose, Krebs … Was wurde nicht alles vorhergesagt! Doch immer wieder kam es zu Rückschlägen. Nur dürftige, oft zweifelhafte Erfolge konnten vermeldet werden. Die Kosten für die Forschung waren immens und stiegen entsprechend auch bei der Therapie in unermessliche Höhen. So erwiesen sich auch die wenigen erfolgversprechenden Eingriffe für den normalen Bürger als schlicht unbezahlbar.

Dann lösten sich die ersten Komitees auf, die sich über Jahre mit der Frage nach einer neuen Ethik befasst hatten. Eine neue Ethik war verlangt worden für den neuen Menschen, an dessen Keimbahn, dessen Nervenzellen, dessen Gehirn Änderungen vorgenommen werden würden durch Keimbahntherapie, somatische Gentherapie, Transplantation von Hirngewebe. Es waren eindeutige Gesetze verlangt und formuliert worden, die Euthanasie-Debatte hatte noch einmal eine kräftige Blütezeit erlebt.

Aber jetzt war das alles kein Thema mehr. Die Forschung schien nicht voranzukommen. Therapiefortschritte gab es nur durch Verbesserungen von Operationstechniken. OP-Roboter führten alle Eingriffe sicher und kostengünstig durch. Transplantationen gehörten zum Alltag — die von Hirngewebe genauso wie die von Netzhaut, Leber und Herz. Aber kein Mensch fragte mehr danach, ob fremdes Hirngewebe auch fremde Bewusstseinsinhalte mit sich brächte und die Persönlichkeit dadurch eine Veränderung erführe. Was zählte, war allein die technische Machbarkeit.

Und dann strengte Mischnich seinen Prozess gegen mich an. Für mich kam das Ganze völlig unerwartet. Ich hatte immer selbstständig gearbeitet, von einer Ausbeutung seiner Ergebnisse konnte keine Rede sein. Es ist in der Wissenschaft seit jeher üblich, dass Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler für die eigene Arbeit herangezogen werden, wo stünden wir denn anderenfalls heute? Deshalb war die Verwendung einiger seiner Ergebnisse über die Letalzeit des Menschen ein völlig normaler Vorgang, dessen Legalität auch von keiner anderen Seite in Zweifel gezogen wurde. Insbesondere war der Vorwurf aber lächerlich, da inzwischen das Institut für Biotechnik, an dem Mischnich noch immer tätig war, LabEur angegliedert worden war und er nicht weiter den Geheimniskrämer spielen konnte.

Seine Klage wurde abgewiesen und Mischnich verließ uns, um in Bayern, das damals schon selbstständig war, ein Labor zu leiten. Seit er sich im Ausland aufhielt, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört, bis heute Abend … Ich steckte damals mitten in meinen Versuchen und bekam nicht allzu viel mit von dem, was sich sonst so in der Welt abspielte. Dass sich die Erde in zwei Lager gespalten hatte — Ost und West, war ein bisschen wie zur Zeit der Kindheit meiner Urgroßeltern. Es herrschte aber eine relative Ruhe. Kriege und Hungersnöte fanden zunehmend in den Restländern statt. Das waren die, die vorwiegend auf der Südhälfte unserer Erdkugel liegen und wirtschaftlich nicht den Anschluss finden konnten. Heute weiß niemand mehr, wie es dort zugeht, nachdem der Äquatorialkrieg mit der Neuen Waffe über Nacht beendet worden war. Es kam in der Folge zum Ost-West-Bündnis und seitdem findet alljährlich ein Ost-West-Gipfel zur Klärung der Ressourcenabschöpfung in den Restländern statt. Ich habe auch einen Verdacht, was man gegen die Überbevölkerung dort zu unternehmen gedenkt, aber damit will ich nichts zu tun haben.

Ich greife schon wieder vor. Damals jedenfalls, vielleicht ein halbes Jahr, nachdem Mischnich nach Bayern emigriert war, gelang es seinem ehemaligen Mitarbeiter Armed, der weiterhin bei LabEur am Institut für Biotechnik arbeitete, die Lebensdauer von Europäischen Eichhörnchen mit der sensationell niedrigen Abweichungsrate von +/- 10 Tagen vorauszusagen. Armed reichte seinen Bericht unter Einhaltung der Vorgaben für staatswissenschaftliche Forschungen nach oben weiter — wir sind schließlich eine staatliche Einrichtung, und alles passiert auf dem Dienstweg. Aber die Bombe schlug nicht ein. Tagelang geschah einfach nichts. Armed hoffte von Tag zu Tag, zum Chef gerufen und begeistert in die Arme geschlossen zu werden. Er sah die Nachricht um die Welt gehen. Endlich wieder einmal ein sensationeller Erfolg! Wie sehr brauchten wir den! Nicht auszudenken, wie das den Ruf der deutschen Wissenschaft aufwerten würde. Und vor allen Dingen: Es würden wieder Gelder bewilligt werden! Wie nötig hatten wir alle einen Beweis dafür, dass unsere Arbeit etwas wert war und der Menschheit nützte.

Als Armed nach einer Woche nachhören wollte, wann seine Forschungen denn nun der Öffentlichkeit vorgestellt würden, beschied ihm der Leiter lapidar, seine Arbeitsgruppe würde aufgelöst. Das Gebiet, mit dem sich Armed befasst habe, sei nicht mehr zeitgemäß, die Ausgaben für derartige Forschungen vor den Menschen im Lande nicht mehr zu rechtfertigen. Kein Mensch habe einen Nutzen davon zu wissen, ob ein Eichhörnchen morgen oder übermorgen tot vom Ast falle. Den Wert für die Bestimmung der Letalzeit beim Menschen erkannte man nicht. Da man Armed aber für einen tüchtigen Mitarbeiter halte, der die Fähigkeit habe, sich rasch in neue Gebiete einzuarbeiten, biete man ihm die Leitung des gerade fertiggestellten wissenschaftlichen Archivs an. Auch seine bisherigen Mitarbeiter könnten dort weiterbeschäftigt werden.

Ich weiß noch gut, wie ich Armed im Labor vorfand, umringt von den Kollegen. Die Stimmung in der Gruppe schwankte zwischen offener Rebellion und Hoffnungslosigkeit. Ich konnte die Wogen glätten, indem ich die Aufrührer eindringlich auf die Folgen eventueller unbedachter Handlungen und Äußerungen hinwies. Den Job zu verlieren war so ziemlich das Letzte, was man sich damals erlauben konnte, denn die Regierung hatte im Vorjahr jegliche staatliche Unterstützung für Arbeitslose gestrichen. Es gab nurmehr die Möglichkeit, für einen Minimallohn in sozialen Einrichtungen — vorwiegend in der Altenpflege und in Suppenküchen — ein paar Ost-West-Dollar zu verdienen. Da half auch keine akademische Ausbildung mehr aus dem Elend heraus.

Armed blieb als Einziger uneinsichtig. Er wollte seine Ergebnisse veröffentlichen und seine vorgesetzte Behörde notfalls durch die zu erwartende positive Reaktion der in- und ausländischen Fachwelt überzeugen. Als er wütend das Labor verließ, eilte ich ihm nach, um ihn zu warnen: Er musste damit rechnen, dass sein Vorhaben dem Leiter zugetragen würde. Alles vergebens. Er ließ sich nicht zur Einsicht bringen, sondern richtete zuletzt seinen Zorn auch noch gegen mich.

Es war kein guter Tag für Armed. Am gleichen Abend noch wurde er auf dem Weg von der U-Bahn-Station Altes Eck zu seiner Wohnung von Unbekannten überfallen und beraubt. Unglücklicherweise trug er so schwere Kopfverletzungen davon, dass er noch während des Transportes in die Klinik starb. Wir waren alle erschüttert, als wir am anderen Morgen davon erfuhren. Die Firmenleitung zeigte sich von der noblen Seite und sorgte für ein wunderschönes, ehrenvolles Begräbnis.

Für mich blieb es lange Zeit unverständlich, wieso unser Staat aus unseren Forschungsergebnissen keine Konsequenzen zog und durch die Anwendung und Erprobung in der Praxis irgendwelchen Nutzen — in erster Linie finanzieller Art — aus dem Wissen zu ziehen versuchte. Schließlich brauchte das Land nichts so sehr wie Geld. Wozu forschten wir, wenn niemand etwas mit den Ergebnissen anfangen wollte? Es war schon erstaunlich genug, dass überhaupt noch Geld für die Forschung ausgegeben wurde. Warum ließ man forschen, wenn solche wahnsinnigen Erfolge, wie der von Armed doch einer war, in irgendwelchen Schubladen verschwanden?

Da tauchte urplötzlich Uwe Manns auf dem Aktienmarkt mit seiner Eternity AG auf, einer Organisation, die sich allein mit der Erforschung lebensverlängernder Abschnitte in der menschlichen DNS befasste. Es war ein gutgewählter Zeitpunkt für den Gang an die Börse, denn kurz zuvor war es erstmals gelungen, mithilfe der Gentherapie eine bestimmte Krebsart zu heilen. In einem deutschen Labor! Es funktioniert also doch! Ein Anfang war gemacht.

Für kurze Zeit, nur ein paar Jahre vielleicht, entstand so etwas wie eine Goldgräberstimmung im Lande. Alles schien auf einmal wieder möglich, was man resigniert als unrealistische Träumereien aus seinen Gedanken verbannt hatte. Ein Leben ohne Krankheiten, wenn nicht mehr für sich selbst, dann doch vielleicht für die Kinder und Enkelkinder. Man musste nur weiterhin daran arbeiten.

Es war schon ganz schön aufregend mitzuerleben, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung änderte. Der Mittelstand investierte, Aktienbesitz war wieder so selbstverständlich wie die cash-card, drei Wirtschaftssender stritten plötzlich um die Gunst des Publikums.

Nur die Vertreter von Poor Against Rich nutzten die ihnen eingeräumte Sendezeit von fünfzehn Minuten für eine allgemeine Hetze gegen den Fortschritt. Sie glaubten damals noch an die Möglichkeit einer gesetzlichen Vorgabe zur Gleichbehandlung aller Kranken und forderten ihr angebliches Recht ein. Als wenn wir dafür noch Reserven gehabt hätten!
    Ein Jahr später standen die Medien weltweit kopf: Die Gen-Kombination war gefunden, die die Letalzeit eines jeden menschlichen Individuums festlegt. Eindeutig und mit einem einfachen Test jederzeit nachweisbar.

Die Öffentlichkeit war in zwei Lager gespalten: Während die einen sich sofort einem solchen Test unterziehen wollten — was natürlich in diesem Umfang zu der Zeit schon allein rein technisch und von der Ausrüstung der Labore gar nicht möglich war — und begeistert waren von der Aussicht, eventuell ein langes Leben sozusagen im Voraus bescheinigt zu bekommen, entsetzten sich die anderen bei genau dieser Vorstellung und forderten Gesetze, die die Anwendung solcher Untersuchungsmethoden verboten.

Ich weiß von knapp zehntausend Fällen, in denen die Letalzeit ermittelt und das Ergebnis den Betroffenen mitgeteilt wurde. In der Folgezeit kam es unter diesen reihenweise zu tragischen Ereignissen. In Verkennung der Tatsache, dass das sogenannte „Lebensdauer-Gen“ — was es ja in dieser Vereinfachung nicht gibt — kein Garant ist für das Überleben von Unfällen, Mordversuchen und ähnlichen Anschlägen auf die Gesundheit, wagten manche Menschen mit einer „bescheinigten“ Letalzeit von vielen Jahren oder gar einigen Jahrzehnten Unternehmungen, die sie sich sonst niemals zugemutet hätten. Viele kamen dabei vorzeitig ums Leben. Andere schieden von einem Tag auf den anderen aus dem Arbeitsleben aus, hauten die Familienersparnisse auf den Kopf, verprellten ihre Freunde und führten ein ausschweifendes Leben — mit der entsetzlichen Nachricht konfrontiert, dass ihre bisherige Lebensplanung hinfällig war, da sie nur noch wenige Wochen oder Monate zu leben hatten. Gleichzeitig überschwemmte uns eine Antragsflut mit Wünschen nach Letalzeitfeststellungen sowohl von Privatpersonen als auch von Arbeitgebern für ihre Beschäftigten.

Kurzum — das Chaos konnte kaum größer sein. Da verübten religiöse Fanatiker ein Attentat auf das Gebäude der Eternity AG. Zwei Angestellte Manns' kamen dabei ums Leben. Manns selbst gab anschließend in einem Interview kund, er habe vom bevorstehenden Tod der beiden gewusst, denn er könne sehr wohl auch einen unnatürlichen Todeszeitpunkt voraussagen. Mit diesen Äußerungen — die sicherlich völlig aus der Luft gegriffen waren und mit denen er sich nur wichtigmachen wollte — löste Manns weltweit eine Welle der Empörung aus.

Kurioserweise kam es in der Folgezeit zu einem neuen religiösen Bewusstsein bei vielen Menschen. Der Blick in die Zukunft wurde mit dem Sündenfall im Paradies in Zusammenhang gebracht. Immer mehr Menschen verlangten, was das Wissen über Letalzeiten anging, den Zustand der Unschuld wiederherzustellen — was natürlich unmöglich war — oder ihn zumindest für die kommenden Generationen wieder einzuführen. Ein Ende der Forschung auf dem Gebiet der Letalzeit wurde immer heftiger gefordert.

Schließlich musste der Ost-West-Rat in Paris zu einer Sitzung der Dringlichkeitsstufe 1 zusammenkommen. Das Ergebnis war niederschmetternd — für meine Kollegen und mich, aber auch für die Menschheit: Erstmals sollte eine Entwicklung der Forschung angehalten werden — weltweit. Alle Mitglieder des Ost-West-Bündnisses verpflichteten sich, die Forschungsergebnisse auf dem Sektor der Genanalyse und Gentherapie zu ächten. Innerhalb von zwölf Monaten sollten alle damit befassten Einrichtungen abgewickelt werden. So etwas hatte es in diesem Ausmaß und mit diesen Folgen noch nie gegeben.

Kriminelle Elemente versuchten im folgenden Jahr immer wieder, diese Abwicklung der Institute zu unterlaufen, indem sie Wissenschaftler und Laborangestellte bedrohten oder zu bestechen versuchten. Aber unsere Arbeitsplätze wurden derart gut bewacht und abgeschirmt, dass mir kein einziger Fall zu Ohren kam, bei dem es gelungen wäre, wissenschaftliches Knowhow und labor-technische Verfahren nach draußen zu schaffen.

Nach einem Jahr meldete der Ost-West-Rat pünktlich: Weltweit gab es keinen einzigen Wissenschaftler mehr, der die Möglichkeit hatte und nutzte, auf dem Gebiet der Genanalyse oder Gentherapie weiterzuforschen oder die bisher bekannten Methoden anzuwenden und zu nutzen. Wir alle hatten ein entsprechendes Papier unterzeichnen müssen, nachdem die zuständige Kommission die Abwicklung unseres Institutes bescheinigt hatte.

Im Grunde genommen war es ein lächerliches Vorgehen und ich kann immer noch nicht glauben, dass es gewählte Volksvertreter weltweit gab, die der festen Überzeugung waren, Wissen ließe sich gezielt vergessen.

Was folgte, waren lapidare Meldungen über Schließungen und Umwandlungen von Instituten und Laboratorien. Neue Ziele wurden formuliert und Pläne für deren Verwirklichung erstellt: Wirtschaftliche Themen gerieten wieder mehr in den Vordergrund, brachten auch tatsächlich eine leichte Verbesserung der Lebensverhältnisse mit sich.

Die Bevölkerung strömte in Scharen zu den Vergnügungsstätten. Es waren jetzt sogenannte Top-Adventures angesagt. Das waren Massenveranstaltungen in riesigen Hallen oder unter freiem Himmel, bei denen in haarsträubenden Spielen und Wettkämpfen ein Sieger ermittelt wurde, dem als Prämie eine Burg, ein Schloss oder auch nur eine Villa zukam. Der stolze Sieger konnte aus den Reihen seiner unterlegenen Gegner drei Personen wählen, die ein Jahr lang für sein leibliches Wohl, für sein Haus oder sein Auto sorgen mussten.

Die Spiele waren ungemein beliebt. Jeden Samstag beteiligten sich landesweit bis zu 20 000 Menschen daran. Die Ausstrahlung erreichte konstant fünfzig Prozent der Bevölkerung. Als es nach einem Jahr zu den ersten Notverkäufen kam, weil die Sieger nicht mehr in der Lage waren, ihre Immobilie weiter zu bewirtschaften und auch völlig entwöhnt waren, was Arbeiten anbelangte, wurde direkt im Anschluss an die Spiele-Übertragung ein Sendeplatz eingerichtet, der es erlaubte, sich an der Versteigerung zu beteiligen und mitzuerleben, wie der Schlossherr das Feld räumen musste.

Es folgten ein paar Jahre, in denen allgemeine Ruhe herrschte. Die große Politik war in den Hintergrund getreten. Man hatte sein Auskommen, seine Unterhaltung. Mit der Armut der anderen konnte man leben. Jeder hatte ja seine Chance.

Ja, und dann kam eines Tages etwas ans Licht der Öffentlichkeit, das alles, alles verändern sollte. Der Fortschritt brachte eine Titelstory, die auf der ganzen Welt für Aufregung sorgte. Ich glaube, die Schlagzeile hieß ganz vorsichtig: „Nutzt der deutsche Staat die Lebensdauer-Forschung für seine Interessen weiter?“ Auf der Titelseite waren Listen mit Namen und Zahlenkolonnen abgebildet, die auf den ersten Blick wenig sensationell erschienen.

Dafür hatte es der Bericht in sich. Es wurde behauptet, die ärztlichen Untersuchungen, die an sich nur beim Eintritt ins Berufsleben Pflicht waren, wären aus vorgeschobenen Motiven inzwischen bei fast jedem deutschen Staatsbürger vorgenommen worden. Sei es für einen Wechsel des Krankenversicherers, für den Ein- oder Austritt in einen Sportverein, für die Führerscheinprüfung, für die Erstuntersuchung gleich nach der Geburt und, und und … Immer sei eine Probe auch an das Institut für polybiologische Medizin geschickt worden. Eine Ergänzung der Ausführungsbestimmungen des Erlasses zur Volksgesundheit hatte dies ohne nähere Erläuterungen zur Routine erklärt.

Ein Fortschritt-Reporter-Team hatte nun aufgedeckt, dass die Proben dort einzig und allein auf ihre Letalzeit untersucht wurden. Führende Wirtschaftsbosse Deutschlands, aber auch der Innen- und der Wirtschaftsminister sollten angeblich in die Affäre verwickelt sein. Wenn das alles stimmte, so lag ein eindeutiger Verstoß gegen den Beschluss des Ost-West-Rates vor.

Die gesamte Fortschritt-Auflage wurde sofort nach ihrem Erscheinen wegen Verdachtes auf Landesverrat beschlagnahmt, die Internetseite gesperrt. Das war genauso lächerlich wie der Versuch bewussten Vergessens von Wissen. Natürlich hatte die Nachricht schon große Teile der Welt erreicht und war über alle Medien weiterverbreitet worden. Die Fortschritt-Redaktion wurde vom Verfassungsschutz besetzt. Es kam zu heftigen Protesten in allen größeren Städten. Jetzt gingen die Menschen wieder auf die Straße. Sie verlangten die Aufklärung aller Vorkommnisse und Einsicht in ihre gespeicherten Daten. Die alarmierte Weltöffentlichkeit forderte eine umgehende Klärung des Falles.

Unsere Oberste Lenkerin musste nach Paris reisen und vor dem eilig zusammengerufenen Rat der Ost-West-Staaten Rede und Antwort stehen. Die Befragung war nicht öffentlich. Sie endete mit der Bekanntgabe einer Frist von sechs Monaten, innerhalb derer eine international zusammengesetzte Kommission aus Bio-Wissenschaftlern untersuchen sollte, ob die ungeheuren Anschuldigungen zuträfen.

Das Ergebnis stand schon nach zwölf Wochen eindeutig fest: Die Anschuldigungen des Fortschritt waren in allen Punkten berechtigt. Der deutsche Staat, dem inzwischen auch 80 Prozent aller Betriebe mit mehr als sechzig Beschäftigten gehörten, hatte flächendeckend dafür Sorge getragen, dass bei Blutentnahmen immer auch eine Probe an das Institut für polybiologische Medizin ging und dort verbotenerweise im Hinblick auf das Lebensdauer-Gen untersucht wurde. Die Daten waren nicht nur erhoben, sondern auch verwendet worden. So konnte zum Beispiel nachgewiesen werden, dass in den Staatsdienst nur noch Personen gelangten, die 1. kerngesund waren und 2. über eine hohe Letalzeit verfügten.

Der Ost-West-Rat forderte die deutsche Regierung zur umgehenden Schließung des Institutes für polybiologische Medizin sowie aller anderen eventuell bestehenden ähnlichen Einrichtungen auf und kündigte die Überwachung dieser Maßnahmen durch eine internationale Gruppe von Bio-Wissenschaftlern an.

Die Reaktion der deutschen Bevölkerung sorgte jedoch bald für eine überraschende Änderung der politischen Verhältnisse. Die Menschen zogen vor das Regierungsgebäude und forderten die Herausgabe ihrer Untersuchungsergebnisse.

Es war wohl auch beim Mann auf der Straße in all den Jahren nicht anders gewesen als in meinem begrenzten Bekanntenkreis: Jeder verwünschte insgeheim das Ende der Genforschung. Einige wenige wussten aus Untersuchungen vor der Verbotszeit über ihre Letalzeit Bescheid. Viele andere konnten den Gedanken nicht ertragen, dass in irgendeiner Schublade ein Schriftstück liegen sollte, auf dem ihre Letalzeit stand — unerreichbar für ihre eigenen Augen.

Auch die sehr kleinen Erfolge, die wir einmal in der Gentherapie vorweisen konnten, wurden wieder an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Die Medien malten dem Volk eine goldene Zukunft aus, in der die Deutschen auf dem Weltmarkt eine führende Position innehaben würden. Die Schlagzeilen sprachen für sich: „Wir machen weiter!“, „Die Genforschung ist unsere Zukunft“, „Wer kann uns denn noch das Wasser reichen?“, „Deutsche Wissenschaftler: Spitze!“

Rassistische und nationale Tendenzen traten plötzlich überall zutage. Mit einem neu erwachten Selbstbewusstsein lehnte eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine „Kontrolle und Bevormundung“ durch die Partnerstaaten ab. Es kam zum legendären Volksentscheid in Bocklemünd, bei dem über zwei Fragen abgestimmt wurde:

1. Soll jeder Person das Recht zukommen, ihre Letalzeit zu erfahren?

2. Soll in Deutschland die Forschung auf dem Gebiet der Gene wieder
 aufgenommen und weitergeführt werden?

Das Ergebnis ist bekannt, jedes Kind hört heute spätestens in der Schule davon: Beide Fragen wurden mit überwältigender Mehrheit bejaht. Deutschland beschloss die Weiterführung der Genforschung, auch gegen den Willen der Partnerstaaten. Dazu gehörten unweigerlich der sofortige Austritt aus dem Ost-West-Bündnis und eine damit verbundene politische und wirtschaftliche Isolierung des Landes.

Damals jubelten die Deutschen: Wir sind wieder wer! Wir sind die Menschen, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen! Wir sind die Einzigen, die ihre Zukunft planen können, denn nur wir haben das Wissen dafür!

Ich war zu der Zeit schon um einiges weiter und verfolgte die überraschende Euphorie kopfschüttelnd: Ihr würdet euch noch wundern. Euch ist doch gar nicht klar, worauf ihr euch da einlasst!

Nach zwei Monaten trat ein Versorgungsengpass ein, da die Transporte aus unserer Kolonie von den Ost-West-Bündnisstaaten nicht durchgelassen wurden. Es bedurfte einiger, für unsere Regierung sicherlich sehr unangenehmer Gespräche, bis es nach schmerzhaften finanziellen Zugeständnissen schließlich wieder freie Bahn für unsere Lebensmittel gab.

Alle Deutschen erhielten damals ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Auskunft über ihre Letalzeit. Dem Institut für polybiologische Medizin wurde die Bundesanstalt PopVit angegliedert, deren einzige Aufgabe in der Beantwortung von Anfragen zur Letalzeit bestand. Infolgedessen wurde eine Kategorisierung eingeführt, die zwischen Kurzlebern, Langlebern, Längstlebern und Extremlebern unterschied.

Kaum eine Frau und kaum ein Mann konnte sich damals dem gesellschaftlichen Zwang entziehen und auf die Einholung der Letalzeit-Daten verzichten. Die Menschen sahen es in kürzester Zeit als einen völlig normalen Vorgang an, etwa von ihrem potenziellen Lebenspartner Einsicht in dessen Letalzeit-Dokument zu verlangen. Warum sollte man große Gefühle in jemanden investieren, dem nur noch kurze Zeit zu leben beschieden war? Andererseits: Ein paar Jahre ließen sich sicherlich mit einem unangenehmen Menschen an der Seite verbringen, wenn man nach dessen Tod dafür finanziell gutgestellt mit dem Erbe weiterleben könnte.

Schnell kam es aber auch zu Indiskretionen der übelsten Art: Listen mit den Letalzeiten prominenter Personen wurden veröffentlicht und diskutiert. In den Talk-Shows wurden Gäste, die bekundet hatten, bisher ihre Letalzeit noch nicht erfragt zu haben und die dies auch für die Zukunft aus verschiedensten Gründen ablehnten, mit ihrer auf kriminellen Wegen eingeholten Letalzeit-Information konfrontiert und oftmals durch ihre Betroffenheit zum Gespött der Nation gemacht.

Dann trat die Unnütz-Verordnung in Kraft. Sie erinnern sich vielleicht: Es gab immer wieder Mütter, die ihre Kinder austragen wollten, auch wenn die Letalzeit des Ungeborenen wirtschaftlich gesehen einen hundertprozentigen Verlust für die Gesellschaft darstellte. Was versprachen sich Frauen davon, ein Kind zur Welt zu bringen, das nach wenigen Jahren, ohne auch nur im geringsten Maße zum Wohle der Menschheit beigetragen zu haben, mit Sicherheit sterben würde? Der Staat — wir alle — zahlten für die Erziehung, die Unterbringung, die Ausbildung, eventuell auch noch für die Pflege — und dann? Dann starb das Kind zum erwarteten Zeitpunkt und der ganze Aufwand war für nichts gut gewesen.

Die Unnütz-Verordnung (eigentlich handelte es sich dabei um einen Artikel des Gesetzes zur Ressourcen-Abschöpfung, aber kein Mensch gebrauchte diesen Ausdruck) sorgte nun dafür, dass Kinder mit einer geringen Letalzeit gleich nach der Geburt in Wohlfahrtseinrichtungen kamen, wo man sie mit dem Lebensnotwendigsten versorgte, aber gleichzeitig gezielt zu verhindern wusste, dass unnötig Zeit und Geld in sie investiert wurde. Es kam zu neuen Straftatbeständen: der Vortäuschung langer Letalzeiten und damit verbunden der Verschwendung persönlicher Kraftressourcen bei der Aufzucht und Pflege solcher Kinder im Elternhaus.

Wirtschaftlich gesehen waren diese Jahre die Zeit des großen Umbruchs. Das Gesetz zur Ressourcen-Abschöpfung brachte immense Einsparungen mit sich, vor allen Dingen bei Krankenhaus- und Medikamentenkosten. Viele Eingriffe konnten jetzt ja unterbleiben, da von vornherein feststand, dass sie das Leben nicht verlängern würden. Dafür konnten andere kranke Menschen mit oft teuren Medikamenten schnell wieder dem Arbeitsleben zugeführt werden.

Der Lebensversicherungsmarkt brach völlig zusammen. In fast allen anderen Bereichen ging es dagegen zögernd wieder aufwärts. Nicht nur der Staat, auch die Industrie und das Handwerk konnten endlich wirklich planen. Auf einmal waren auch wieder Gelder für Kindergärten und Horte da, die Schulklassen konnten verkleinert werden, selbst der Wohnungsmarkt erreichte allmählich wieder einen vertretbaren Zustand. Goldene Zeiten schienen bevorzu-stehen.

Aber dann kam es völlig unerwartet eines Tages zum Aufstand aller gegen alle: Die Langleber erhoben sich gegen die Kurzleber, weil letztere zunehmend die Auffassung vertraten, sie bräuchten sich in ihrem kurzen Leben nicht für den schönen langen Lebensabend der anderen abzurackern. Die Kurzleber (sie werden maximal dreißig Jahre alt) wollten eine mindestens fünfjährige Rentenzeit für sich, was von den anderen Gruppen sofort rigoros zurückgewiesen wurde. Die Langleber (bis sechzig Jahre) forderten eine gleichlange Rentenzeit wie die Längstleber (bis 85 Jahre), nämlich zehn Jahre.

Die Kurzleber verlangten, dass Gelder in die Erforschung der Umstände gesteckt würden, die sie daran gehindert hatten, zu Lang- oder Längstlebern zu werden und forderten Untersuchungen zur Reparaturmöglichkeit ihres ungeliebten Lebensdauer-Gens.

Allgemein schlecht angesehen sind auch heute noch die Extremleber. Das sind Personen, die länger als 85 Jahre leben. Sie wurden damals — auch gegen ihren Willen — in Altenlager verbracht, wo ihr Vermögen, wenn sie denn eines hatten, zum Teil in ihre eigene, zum Teil in die Verwahrung mittelloser anderer Alter floss.

Als die Längstleber dagegen protestierten, dass sie bis zum Alter von fünfundsiebzig Jahren arbeiten sollten, während sich normale Langleber schon mit fünfundfünfzig zur Ruhe begeben durften, provozierten sie damit Rentenminister Horstmann zu der Äußerung, für Längstleber könnten jederzeit ausgezeichnete Sammelstätten eingerichtet werden, in denen den Arbeitsunwilligen schon beigebracht würde, was ihr Lebensunterhalt koste.

Für Horstmann rückte bald Günzel nach. Der machte sich bei den Langlebern insbesondere wegen seiner Forderung nach einer Unterscheidung zwischen nützlichen und unnützen Langlebern beliebt. Da sich jeder Langleber für ein nützliches Glied der Gesellschaft hielt, unterstützten sie alle die Pläne des Ministers, unnütze Lang- und Längstleber, also solche, die krank oder siech sind, auf humane Art vorzeitig zu erlösen.

Um einen ersten Schritt zu tun, den Ungerechtigkeiten bei den Letalzeiten zu begegnen, kam vor zwei Jahren der Geburtenerlass. Er besagt, dass alle Schwangeren ihr ungeborenes Kind auf dessen Letalzeit hin untersuchen lassen müssen. Es dürfen seither nur noch Kinder ausgetragen werden, die Langleber sind. Weitere zweiundvierzig Tests müssen ausschließen, dass das Ungeborene eines Tages an einer der bisher nicht oder nur mit erheblichem finanziellen Aufwand zu heilenden Krankheiten leidet, die auf Gendefekte zurückzuführen sind.

Die Einsparungen, die der Staat aufgrund des Geburtenerlasses machen konnte, wurden anfangs zur Hälfte dem Ressort des Abschirmministers zugeteilt und in den Ausbau der Anlage zur Vermeidung fremder Einsichtnahme gesteckt. Die andere Hälfte floss den Einrichtungen zu, welche sich mit der Erforschung der Möglichkeit von Veränderungen am Letalzeitgen befassten.

Vor zwei Wochen hat man diese Forschungen wieder eingestellt. Eine großangelegte Begleitstudie hatte erbracht, dass unser Land die größten und sichersten Überlebenschancen hat, wenn alles so weitergeführt würde, wie es augenblicklich geschieht: Zu Geburten werden ausschließlich Langleber zugelassen. Das Problem der noch verbleibenden Kurz-, Längst- und Extremleber wird sich in absehbarer Zeit von alleine lösen. Unser Staat wird sich in ein, zwei Generationen gesundgeschrumpft haben. Das Versorgungsproblem, das trotz der Einfuhren aus unserer Kolonie doch immer irgendwie noch präsent ist, wird sich in nichts auflösen.

Ein schönes, ein neues Deutschland wird sich am Ende des ersten Jahrhunderts in diesem neuen Jahrtausend der Rest-Welt präsentieren. Ich habe daran mitgearbeitet. Und ich will das erleben. Ich habe ihnen dieses halbe Jahr in Freiheit abgeluchst, um meine Forschungen beenden zu können. Jetzt ist es so weit. Ich hätte mich vor sechs Monaten melden müssen, aber es war mir einfach unmöglich. Ich stand doch so kurz vor der Lösung, dem alles entscheidenden Ergebnis!

Ich habe damals, am Abend des siebten Mai, die Würdigung des Institutsleiters mit einer Haltung entgegengenommen, wie man sie sicherlich selten bei der Verabschiedung eines Langlebers aus der Arbeitswelt erlebt hat. Ich war völlig konzentriert, hatte meine Gedanken seit Tagen ganz und gar auf diese zwei Stunden versammelt: zwanzig Minuten dankende und lobende Worte, zehn Minuten meine nicht weniger freundliche und dankende Antwort, danach der obligatorische kleine Umtrunk mit Kollegen und Vorgesetzten und anschließend der Gang durch das Institut mit dem Entfernen aller persönlichen Dinge und dem Abschrauben des Namensschildes an der Labortür.

Ich bin danach einfach nicht zur Altenmeldestelle gefahren, sondern hierher, in dieses Domizil, von dessen Existenz mir eine Person vor Jahren berichtete, deren Namen ich nicht nennen werde, auch wenn diese Person jetzt schon seit einiger Zeit nicht mehr unter uns weilt. Wenn sie mich gleich abholen, wird es wieder ein Domizil mehr sein, das dem Staate verraten wurde. Aber diesmal ist es der Bewohner selbst, der seine Häscher einbestellt hat. Nein, es sind ja nicht die Häscher, die kommen werden. Ich hoffe doch auf eine anständige Delegation. Vielleicht kommt der Wissenschaftsminister persönlich? Ach nein, der ist vielleicht noch gar nicht im Bilde. Ich glaube, man wird mich direkt zur Obersten Lenkerin bringen.

Wie spät ist es eigentlich? Gleich zwanzig Uhr … Um achtzehn Uhr fünfzig habe ich die Nachricht an die Oberste Lenkerin gesendet. Wieso ist noch nichts passiert? Ich weiß, dass sie jetzt in ihrem Palais ist. Die Regierung muss doch sofort informiert werden. Wieso handeln sie nicht umgehend?

Ich will, dass von meiner Entdeckung alle erfahren. In den letzten fünf Jahren habe ich immer wieder Erfolge vorweisen können bei der Reparatur defekter Gene und Gengruppen, ich habe (mit Spings zusammen) die Grundlagen für die Heilung von fünf volkswirtschaftlich schädlichen Krankheiten ermöglicht. Mein Name ist bekannt. Ich bin seit Monaten untergetaucht. Aber in dieser Zeit konnte ich endlich meine bahnbrechende Forschung auf den Zenit bringen. Es wird teuer, sehr teuer werden. Aber es ist jetzt möglich — ich habe es möglich gemacht — mithilfe eines raffinierten, allerdings recht komplizierten Eingriffs in die Keimbahn jeden (der es bezahlen kann) zum Ewigleber zu machen.

Sie sollen kommen, sie sollen mich nach dem Empfang bei der Obersten Lenkerin zu LabEur bringen, sie sollen fragen: Mein Gott, warum haben wir dich gehen lassen? Du bist jetzt fünfundfünfzig — na und? Warum haben wir bei dir keine Ausnahme gemacht?

Sie werden meinen Namen wieder an der Labortür anbringen. In den nächsten Tagen und Wochen werde ich den Fachleuten des ganzen Landes erläutern und vorführen, womit ich mich in der letzten Zeit ausschließlich befasst habe und was absolut rechtfertigt, dass ich mich damals nicht umgehend zur Alten-Meldestelle begeben habe: Ich werde ihnen demonstrieren, wie ich das Letalzeit-Gen manipuliere. Ich werde es ihnen an kürzest-lebenden Insekten vorführen, dann an Kleinsäugern und dann an einem beliebigen todkranken Menschen ihrer Wahl. Sie werden jeden Tag, jede Woche aufs Neue erst ungläubig, dann begeistert und bewundernd auf mich schauen.

Man wird mich mit Ehrungen überhäufen wollen, aber ich werde alle ablehnen mit dem Hinweis, ich habe es für die Menschheit getan.

Ich habe mir natürlich schon Gedanken gemacht, dass wir, wenn wir ansonsten so weitermachten wie bisher, als Ewigleber bald ein überaltertes Volk wären und ein überbevölkertes Land hätten. Man möchte auch eigentlich nicht unbedingt, dass genau die Menschen, die zufällig jetzt leben, in den Genuss der Ewigkeit kommen. Es sind ja doch einige Idioten darunter. Ich sehe da auch die Notwendigkeit, gegebenenfalls in Letalzeiten verkürzend einzugreifen.

Jetzt kommt ein Wagen. Mal sehen. Ach, nur der von der Alten-Abholung. Wahrscheinlich für den Spinner von nebenan. Immer noch nicht das Regierungsfahrzeug. Ich verstehe nicht, was da passiert ist, dass die so lange brauchen. Na, andererseits, wenn die wichtigen Leute demnächst ewig leben, kann man sich auch hin und wieder mehr Zeit für alles lassen.

Die Türglocke! Ich komme ...

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