W. v. Kaulbach: Ottilie (Ausschnitt)


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„Wie über die Menschen
so auch über die Denkmäler ...“

Eine Analyse von Ottilies Gedanken über
Vergänglichkeit, Abschied und Erinnerung
in Goethes Wahlverwandtschaften

© Christel Baumgart 2023

I Vergänglichkeit als Thema in den Wahlverwandtschaften

Mit den Wahlverwandtschaften liegt uns ein überaus komplexer Roman vor. Er kann als reine Beziehungsgeschichte gelesen werden, als eine Liebesgeschichte mit dramatischem Ausgang und recht schwülstigem Schluss. In ihr scheitern die beteiligten Personen an dem Versuch, ihren Leidenschaften die Vernunft gegenüberzustellen bzw. aus sittlichen Gründen der Erfüllung ihrer Liebe zu entsagen.

Die Wahlverwandtschaften sind aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Bestreben des Menschen, ordnend in die Natur einzugreifen. Menschen, welche versuchen, die Landschaft ihres Lebensraumes nach Plan zu gestalten, die sich die Natur gefügig machen und in eine an ihre Ästhetik angepasste Form zwingen wollen, scheitern dort, wo sie sich auch dem Ursprünglichen in sich selbst verweigern: in der Liebe, in der Leidenschaft.

Der Roman ist auch eine Geschichte von menschlicher Schuld. Die Geschehnisse lassen alle Hauptbeteiligten schuldig werden, ohne dass ein wirkliches Vergehen vorliegt. Die Liebe bricht über sie herein. Keiner gibt dem Verlangen wirklich nach. Für alle ist die Situation unerträglich. Als alles sich zum Guten zu wenden anschickt, geschieht das Unglück: Durch eine Unachtsamkeit Ottilies ertrinkt das Kind Charlottes und Eduards. Danach ist die ins Auge gefasste neue Verbindung der Paare nicht mehr möglich. Zu schwer wiegt der Tod des Kindes, das ja auch die Züge von Ottilie und dem Hauptmann trug.

Die Wahlverwandtschaften sind aber auch, was der Begriff, der damals gerade neu aus der Chemie bekannt wurde, ausdrückt: ein Experiment mit verschiedenen Ausgangsstoffen. Der Autor erzeugt eine Situation, in der vier Personen aufeinandertreffen und untersucht, wie diese sich nun aus ihrer alten Verbindung lösen und aufgrund von Affinitäten zu neuen Konstellationen zusammenfinden. Der Mensch, der sich solcher Vorgänge bewusst ist und sie spielerisch-planend am eigenen Körper erleben möchte, wird erfahren müssen, dass er zwar die Mechanismen erkannt haben mag, aber doch noch lange nicht die tatsächlichen Auswirkungen absehen kann. So stellt sich Eduard die eine neue Verbindung als Charlotte/Ottilie und die andere als Eduard/Hauptmann vor. Dem Leser, als Zuschauer des Experimentes, ist an dieser Stelle schon klar, dass es wohl anders kommen muss.

Die Wahlverwandtschaften sind auch ein Gesellschaftsroman, wenn man den Roman denn als solchen lesen will. Der Leser erfährt eine Menge über das Leben adliger Leute, über Erziehung und Sitten, Arbeit und Unterhaltung und über den Umgang mit niedriger gestellten Menschen. Wir erfahren etwa, dass damals Scheidungen durchaus möglich waren, dass das Nachstellen großer Gemälde mit lebenden Personen eine beliebte Art der Unterhaltung bei Gesellschaften war, wie sich gut situierte Leute den Feierabend gestalteten, wie die Geschlechterrollen festgelegt waren und noch einige andere Dinge.

Über all dem, als was der Roman gelesen werden kann, liegt immer auch der Gedanke an die Tragik der vergeblichen Anstrengungen des Menschen. Das planende Schaffen der Menschen reicht nicht weit. Die Natur wird in ihrem Werden und Vergehen beschrieben. Wir erleben eine Zeit, in der Landschaft und Garten beginnen, die Früchte der gestaltenden Arbeit zu zeigen. Aber man spürt schon wieder den Hauch der Vergänglichkeit. Der nächsten Generation werden andere Ideen vorschweben. Sie wird eine Allee abholzen und Platz für das Auge schaffen. Oder auf einer Lichtung ein Bäumchen pflanzen und von einem mächtigen, zukünftigen Schattenspender träumen. Oder einen Friedhof einebnen, um neue Gräber errichten zu können. Wir sind der Zeit ausgeliefert. Unsere einzige Waffe gegen das Vergessen ist das Erinnern. Andererseits ist die Zeit auch ein Heilmittel gegen die Wunden, die uns das Leben schlägt. Diese Thematik des Abschieds, der Vergänglichkeit und Erinnerung ist überall in Goethes Wahlverwandtschaften zu spüren. Ihr möchte ich nachgehen.

II  Ottilie
II.1 Zur Person

Über Ottilie erfahren wir einiges, bevor sie selbst in der Geschichte in Erscheinung tritt, durch die Briefe zweier Personen. Die Vorsteherin der Pension, in der sie sich aufhält, berichtet Charlotte über ihre Entwicklung. Sie schildert das junge Mädchen als überaus bescheiden. Ottilie nehme sich selbst zurück, sei gefällig gegen andere. Ihre allzu ausgeprägte Dienstbarkeit gefällt der Vorsteherin allerdings nicht. Sie vermisst ein selbstbewusstes Auftreten, das auch einmal Ansprüche stellt. Ottilie lege eine ausgesprochene Mäßigkeit beim Essen und Trinken an den Tag. Manchmal habe sie auf der linken Seite Kopfweh.

Als ein Jahresbericht über ihre Leistungen fällig ist, überlässt die Vorsteherin dem Gehilfen die peinliche Aufgabe, Charlotte mitzuteilen, dass Ottilie als Einzige die Prüfung nicht bestanden hat. Der Gehilfe sieht die Eigenarten Ottilies ebenfalls, aber er legt sie anders aus, man möchte sagen: liebevoller, einfühlsamer. Sie lerne langsam und schrittweise. Sie brauche dabei Zusammenhänge, über Lücken in der Stoffvermittlung komme sie nicht hinweg. Ihre Schrift sei langsam und steif, aber nicht zaghaft und ungestalt. Sie wisse vieles und das gut. Aber wenn man sie direkt frage, komme keine Antwort. „Sie lernt nicht als eine, die erzogen werden will, sondern als eine, die erziehen will; nicht als Schülerin, sondern als künftige Lehrerin“ (WV, S. 27).

Dem Prüfungsausschuss legt der Gehilfe dar, dass Ottilie sehr wohl die erwarteten Fähigkeiten habe. Aber man antwortet ihm: Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden, und diese habe man bei ihr noch nicht feststellen können.

Ottilie erscheint auch in Stressmomenten – als Luciane sie wegen ihres schlechten Abschneidens verspottet – äußerlich ruhig. Nur der sehr aufmerksame Blick des Gehilfen registriert das kleine Anzeichen der Erregtheit in ihrem Gesicht: eine einseitige leichte Rötung.

Persönlich tritt Ottilie erst in Erscheinung, als sie nach der verpatzten Prüfung für eine Weile in Charlottes Obhut zurückkommt. Sie lebt sich rasch ein und übernimmt bald den Haushalt in eigener Verantwortung. Ihr zurückhaltendes Wesen und ihre Aufmerksamkeit, mit der sie die Personen ihrer Umgebung wahrnimmt und behandelt, tragen ihr viel Zuneigung ein. Die Situationen, in denen sie sich an Gesprächen beteiligt, sind rar. Der Kreis muss klein sein, und die Chemie zwischen ihr und den anderen beteiligten Personen muss stimmen.

II.2 Das Tagebuch

Warum führen Menschen ein Tagebuch und was schreiben sie darin nieder? Ein Tagebuch kann dem einfachen Zweck dienen, wichtige Ereignisse festzuhalten, um sich später einmal die genauen Umstände und das Geschehen selbst wieder lebhaft in Erinnerung rufen zu können. In diesem Falle wird der Autor nicht über Alltäglichkeiten Buch führen, sondern nur in den Fällen, die ihm wichtig erscheinen für sein eigenes Leben oder das ihm nahestehender Menschen. So ein Tagebuch wird also in lockerer Folge verfasst werden.

Dann gibt es das Tagebuch, das wirklich täglich geführt wird. Das kann aus Gründen geschehen, die in der Person des Autors liegen. Vielleicht dient es als Arbeit an der seelischen Bewältigung krisenartiger Lebenssituationen. Unter Umständen kann es zum zwanghaften, wiederholten Festhalten der kleinsten Begebenheiten führen. Vielleicht wird ein Tagebuch als Chronik eines bestimmten Lebensabschnittes angelegt. Oft dient ein Tagebuch dem Autor auch als Instrument zur reflektierenden Auseinandersetzung mit seinem Leben und es fließen über den Bericht von äußeren Geschehnissen hinaus Gedanken zu Themen und Hintergründen des menschlichen Lebens an sich ein.

Schriftsteller, die ein Tagebuch mit der Absicht einer späteren Veröffentlichung führen, werden sich überlegen, ob sie allzu Intimes preisgeben. Und sie werden vielleicht immer ein bisschen an den späteren Leser denken. Ein privates, geheimes Tagebuch unterscheidet sich unter Umständen von einem für eine spätere Leserschaft bestimmten in der Aufrichtigkeit seines Autors.

Zu einem Tagebuch gehören Ort und Datum der Niederschrift sowie ein Ich-Berichterstatter, um es authentisch erscheinen zu lassen. Ottilies Tagebuch fehlt stets der Hinweis auf Ort und Datum. Nur an den Schilderungen der jahreszeitlichen Veränderungen in der Natur sind wir in der Lage, sie zeitlich ungefähr einzuordnen. Der Handlungsverlauf des Romans spiegelt sich nur an wenigen Stellen ihrer Eintragungen wider und stellt daher nur einen vagen zeitlichen Rahmen dar. Nur ein Teil ihrer Eintragungen ist in Ich-Form geschrieben. Die meisten haben einen allgemeineren Charakter und Subjekt ist ein „man“, ein „es“ oder ein „wir“.

Ottilies Tagebuch nimmt kaum einmal Bezug auf eigene Erlebnisse und Seelenzustände. Dabei erwartete man von dem unglücklich verliebten Mädchen doch am ehesten Klagen um den Geliebten, Ausdruck der Sorge um ihn, der in den Krieg gezogen ist. Doch wir hören nichts von alledem.

Stattdessen schreibt sie über Natur, Kunst, Sitten und Erziehung. Und immer wieder über Tod, Vergänglichkeit und Erinnern. Ich möchte auf den folgenden Seiten versuchen, ein Bild von Ottilies Einstellung dazu zu gewinnen.

III Vergänglichkeit, Abschied und Erinnerung

III.1 Der erste Tagebucheintrag

Der Erzähler übermittelt uns sechs Tagebucheinträge Ottilies. Er kündigt dies erst im letzten Absatz des ersten Romanteiles an. Der erste Tagebucheintrag steht denn auch erst im zweiten Kapitel des zweiten Romanteiles. Er nimmt einen deutlichen Bezug zum vorausgegangenen Geschehen und zu dem Gespräch zwischen Charlotte und dem Architekten, an dem sich Ottilie lediglich mit einer Frage beteiligt hatte.

Es geht sowohl im Gespräch als auch im Tagebuch um die Rolle, die bestimmte Orte, Gegenstände und ihre Zusammenhänge beim Erinnern an Menschen spielen.

Welche Bedeutung hat ein Ort für das Erinnern? Im vorangegangenen Gespräch stoßen die Vorstellungen und Meinungen aufeinander: Charlotte lässt im Zuge einer Neugestaltung des Kirchhofes Grabsteine umsetzen und Gräber einebnen. Dabei sieht sie nicht den Schmerz der Menschen, die plötzlich nicht mehr wissen, wo ihre verstorbenen Angehörigen liegen. Charlotte will diesen Schmerz auch nicht akzeptieren. Sie findet, nach dem Tode seien alle Menschen gleich, und man solle hier nicht am Fortsetzen von „Persönlichkeit, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse[n]“ (WV, S. 129) festhalten.

Klarer ausgedrückt: Charlotte benutzt Grabsteine und Monumente zur Dekoration der Landschaft, zur Gestaltung des Kirchhofes: „Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls besäet werden“ (WV, S. 127). Dabei bemängelt sie die Fantasielosigkeit bei der Erschaffung von Denkmälern: immer nur kleinliche Obelisken, abgestutzte Säulen und Aschenkrüge. Ewige Wiederholung der Form. Charlotte stellt ästhetische, künstlerische Ansprüche. Sie träumt von einem Überfluss an künstlerischer, ordnender Gestaltung. Immer wieder Neues, Schönes, Erhabenes für das Auge wünscht sie sich. Dabei gerät die eigentliche Ursache, der Grund, aus dem heraus etwa ein Denkmal geschaffen wurde, in den Hintergrund und die äußere Form gewinnt die Überhand. Dazu passt auch ihre Absicht, alles jederzeit wieder einzureißen, um es nach einem veränderten Geschmack gestalten zu können.

Vor Bildnissen als Denkmälern empfindet sie eine regelrechte Abneigung. Sie „erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren“ (WV, S. 131). Versäumnisse fallen ihr ein, die nun nicht mehr gutzumachen sind. Dabei vergleicht sie den Umgang einzelner Menschen untereinander mit dem Umgang von Familien, Gemeinden und Nationen mit ihren Mitmenschen. Es sei immer das Gleiche: Erst im Tode werde ausschließlich das Gute an einem Menschen hervorgehoben. Charlotte wünscht sich die Aufmerksamkeit, die den Verstorbenen gewidmet wird, für die Lebenden. Hier sind alle Aktivitäten besser eingesetzt. Im Tode nutzen sie niemandem mehr und vermehren nur Trauer und Schmerz. Sie kommt sogar zu dem Schluss, die Sorge um das Andenken anderer sei unrein, da sie gewöhnlich nur in Bezug auf uns selbst stattfinde. Wir wollen damit nur dem Vorwurf der Verstorbenen begegnen, uns zu Lebzeiten nicht ausreichend mit ihnen befasst zu haben.

Der Architekt erinnert an Zeiten, als es noch möglich war, „die Reste eines geliebten Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu drücken“ (WV, S. 129), oder an die Sitte, Verstorbene in reichverzierten Sarkophagen aufzubewahren. Da diese Möglichkeiten nicht mehr bestehen, bleibt nur die Beerdigung „hinaus ins Freie“ (WV, S. 129). Dabei findet er die Vorstellung angenehm, dass die Mitglieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, auch im Tode als eine Gemeinschaft. Die später einmal einsinkenden Grabhügel sollen dann ruhig eingeebnet werden, um für die nachfolgenden Generationen Platz zu schaffen.

Auch aus ihm spricht ein ordnender, gestaltender Geist. Aus Vernunftgründen – um für die nachfolgenden Generationen Platz zu schaffen – darf man alte Gräber einebnen. Der Ort des Erinnerns bleibt nur so lange gewahrt, wie Erinnernde ihm noch eine Bedeutung beimessen.

An dieser Stelle fragt Ottilie dazwischen: „Und ohne irgend ein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas das der Erinnerung entgegen käme, sollte das alles so vorübergehen?“ (WV, S. 129).

Der Architekt erläutert, „nicht vom Andenken, nur vom Platze soll man sich lossagen“ (WV, S. 129). Er plädiert dafür, gut gestaltete und gut ausgeführte Monumente von Künstlerhand anfertigen zu lassen. Diese sollen dann an Orten aufgestellt werden, die über einen längeren Zeitraum hin ihr Aussehen und ihren Charakter bewahren: schöne Hallen um Begräbnisplätze etwa.

Bei der Ausgestaltung bevorzugt er das Bildnis: „... nur müßte es aber auch in seiner besten Zeit gemacht sein, welches gewöhnlich versäumt wird“ (WV, S. 130). Jedes Menschen Leben verzeichnet eine Zeit, in der sein Wesen, sein Charakter, das Besondere an ihm seinen stärksten Ausdruck hat. Zu dieser Zeit müsste sein Bildnis geschaffen werden, um so in der Erinnerung der Menschen, die ihn kannten, wach bleiben zu können.

Erinnerung ist dem Architekten ein Anliegen, um das Bildhafte, Lebhafte zu bewahren. Das Bildnis ist für ihn „der beste Text zu vielen oder wenigen Noten“ (WV, S. 130). In seiner kunstvollsten Ausführung kommt es dem lebenden Menschen ganz nahe.

Ottilie ist bei diesem Gespräch in erster Linie Zuhörerin. Das wird auch später bei anderen Gelegenheiten gewöhnlich der Fall sein. Wie sehr sie der Inhalt dieses Gespräches beschäftigt, erfahren wir aus ihrem Tagebuch. So lauten denn die beiden ersten Sätze, die wir von ihren Aufzeichnungen kennenlernen: „Neben denen zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das Leben hinausdenkt. Zu den Seinigen versammelt werden, ist ein so herzlicher Ausdruck“ (WV, S. 135).

Damit knüpft sie an die Äußerungen des Architekten an. Wo dieser aber von einer Gemeinschaft der Gemeindemitglieder auch im Tode spricht, engt Ottilie diese Gemeinschaft auf die Menschen ein, die man im Leben liebte. Hier spricht die Sehnsucht nach Eduard in verborgener Weise aus ihren Worten. Es schwingt auch eine Todessehnsucht mit in der Vorstellung, dass man dann endlich keine Trennung mehr von seinem geliebten Menschen erleiden muss.

Ottilie engt den Begriff der Gemeinschaft von Menschen auf die, die man liebte, ein. Ein Denkmal kann sie sich dagegen auch gut für Abwesende, Entfernte vorstellen. Dabei ist ihr das Bild am wichtigsten. Auf die Ähnlichkeit kommt es ihr nicht an. Die innere Vorstellung von Nähe zu der Person erfährt eine Verstärkung durch deren Bildnis. Die Abweichung vom erinnerten Gesicht wird als etwas Reizendes empfunden und der Gegensatz mit dem Reiz eines Streites unter Freunden verglichen: Die innere Beziehung stimmt. Sie verschafft sich durch die Reiberei letzten Endes Bestätigung.

Ottilie geht in ihren Betrachtungen noch einen Schritt weiter und kehrt das Verhältnis um: „Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschäftigen: wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daß er etwas dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben bloß zu uns wie ein Bild verhält“ (WV, S. 135).

Ein auf den ersten Blick merkwürdig erscheinender Gedanke, der hier Bildnis und lebenden Menschen austauschbar zu machen scheint. Andererseits hat Ottilies Charakter diesen starken Zug des Betrachtens des Lebens sowie des Erlebens im Beobachten, ohne dass sie sonderlich selbst als Handelnde auftritt oder gar im Mittelpunkt eines Interesses stehen möchte. Ihr genügt anscheinend auf weite Strecken die bloße Anschauung.

Nach ihren Äußerungen über die Unwichtigkeit der Ähnlichkeit zwischen einer Person und ihrem Bild überrascht ihre Bemerkung: „Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man kennt“ (WV, S. 135). Jeder Mensch, so Ottilie, sieht den anderen auf eine ganz bestimmte Weise. Für einen Porträtmaler ist es nahezu unmöglich, einen Menschen so darzustellen, dass jeder Betrachter genau die Feinheiten darin wiederfindet, die für ihn an diesem Menschen die besondere Bedeutung ausmachen. Das sind vielleicht Züge, die der Porträtierte in sich trägt, die in seinem Ausdruck aber nur manchmal, in bestimmten Situationen, Stimmungen, erscheinen. Liebt man genau dies besonders an ihm, wird man das Porträt als unbefriedigend empfinden, das diesen Ausdruck vermissen lässt.

Ein Bild ist für Ottilie also in erster Linie ein Anschauungsobjekt, um ihre Vorstellung zu unterstützen, wenn der Betreffende verstorben oder aus anderen Gründen aus ihrem Umfeld entfernt ist. Es ist ein Objekt, an das ihr Fühlen und Denken sich anlehnen kann. In ähnlicher Weise kann sie aber auch die Gegenwart eines geliebten Menschen erleben: Allein der Einfluss seiner Gegenwart und die Möglichkeit, ihn anzuschauen, ihm zuzuschauen, lässt ihre Vertrautheit und ihre Beziehung zu ihm wachsen.

Ottilie denkt weiter über die Gerätschaften und Gegenstände nach, die der Architekt im Laufe seiner Arbeit gesammelt hat, als er Grabhügel öffnete. Grabbeigaben als Vorsorge für die Zeit nach dem Sterben – jetzt Zeugen für vergebliches menschliches Planen. Ihr fällt der Widerspruch auf: Der Architekt sammelt die Funde aus den Gräbern der Vorfahren und ist doch gleichzeitig damit befasst, Denkmäler für die Nachkommen zu schaffen – Denkmäler, von deren Unberührtheit und Dauer seine Auftraggeber und wohl auch er selbst ausgehen.

Ottilie versucht zu relativieren: „Ist denn alles was wir tun, für die Ewigkeit getan? Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen? Verreisen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum sollten wir nicht wünschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und wenn es auch nur für ein Jahrhundert wäre“ (WV, S. 136). Sie versucht, das menschliche Streben nach Dauer und Bestand, die Angst vor dem endgültigen Tod, der erst mit dem Vergessen eintritt, zu erklären und sucht ein Bild dafür. Auch im Angesicht verfallener Kirchen und abgetretener Grabsteine „kann einen das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben“ (WV, S. 136).

Hier versucht sie, den Tod als eine andere Daseinsform – bildlich gesprochen: in einem Grabsteintext vielleicht oder in einem Bild – zu verstehen. Auch diese Daseinsform findet einmal ihr Ende. Wir können dies nicht überblicken. „Wie über die Menschen so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen“ (S. 136).

III.2 Der zweite Tagebucheintrag

Der zweite Tagebucheintrag findet sich im dritten Kapitel. Vorangegangen ist die Fertigstellung der Kapelle durch den Architekten und das Ausmalen unter Mithilfe von Ottilie. Beide Personen üben das Ausmalen als Dilettanten aus. Beide sind in gewissem Sinne künstlerisch vorgebildet, aber doch unerfahren auf diesem Gebiete. So kommt es, dass die zuletzt gemalten Gewänder und Gesichter schließlich am besten gelingen.

Es ist der Vorabend zu Eduard Geburtstag, als die Kapelle vollendet ist. Es ist Herbst. Eduard befindet sich im Krieg, aus dem er nicht zurückzukehren gedenkt. Für den Architekten ist mit dem Abschluss der Arbeiten auch die Zeit der Abreise näher gerückt. Charlotte, die sich in dieser für sie harten Zeit nicht von Emotionen überraschen lassen will, scheut den gemeinsamen Gang mit Ottilie dorthin. So findet sich diese abends dort alleine ein, um das Werk auf sich wirken zu lassen.

Abschiedsstimmung und das Wissen um Vergänglichkeit sind allgegenwärtig. Gleichzeitig kündet das ungeborene Kind Charlottes und Eduards von neuem Leben, Sinnbild ebenso wie die Kapelle, die für den Glauben an die Auferstehung steht.

Der Tagebucheintrag Ottilies an diesem Tag nimmt deutlich Bezug zu einem vorangegangenen Gespräch, von dem uns diesmal nicht berichtet wurde. Ottilie schreibt: „Eine Bemerkung des jungen Künstlers muß ich aufzeichnen: Wie am Handwerker so am bildenden Künstler kann man auf das deutlichste gewahr werden, daß der Mensch sich das am wenigsten zuzueignen vermag, was ihm ganz eigens angehört“ (WV, S. 141).

Wir hören die Sehnsucht nach der Gegenwart Eduard heraus. Aber Ottilie erklärt ihre Gedanken vorerst ganz aus der Sicht des Künstlers: Dieser schafft seine Werke nicht für sich selbst. Er wird sich in den meisten Fällen von ihnen trennen müssen. Der Architekt mag Paläste entwerfen – er wird sie doch niemals bewohnen. Er mag Bereiche im Tempel bauen und ausgestalten, in die er später seinen Fuß niemals wieder setzen werden darf. Gerade von seinen kostbarsten Werken wird der Künstler keines für sich selbst zurückbehalten. Er muss sein Wesentliches, seine ganze Person in sie hineinlegen und muss doch in der Lage sein, sich davon für immer zu verabschieden. Die Werke eines Künstlers sind seine Kinder. Ottilie vergleicht die Situation mit der eines Vaters, der sein Kind, mit allem Lebensnotwendigen ausgestattet, ins Leben ziehen lassen muss.

Ihr Einstiegsthema ist hier die Trennung des Menschen von dem, was ihm ursprünglich zugehört. Zu Ottilie gehört Eduard. Er ist der Mensch, den sie am wenigsten missen kann, mit dem sie sich als ein Ganzes erfahren kann. Man liest es aus den Zeilen heraus, weil die Situation bekannt ist. Ein Abschied zwischen Ottilie und Eduard hat nicht stattgefunden. Sie weiß nichts über seinen Verbleib, und auch zwischen ihr und Charlotte gibt es Unausgesprochenes.

Ottilie schreibt weiter, wie tröstlich sie eine Vorstellung „der alten Völker“ (WV, S. 141) empfindet: Dort saßen die Vorfahren in großen Höhlen auf Thronen im Kreise beieinander „in stummer Unterhaltung“ (WV, S. 141). Stieß ein Neuer zu ihrer Runde, prüften sie ihn und, wenn er würdig erschien, wiesen sie ihm einen Platz zu.

Als Ottilie die fertigausgestaltete Kapelle betreten und dort einige Zeit alleine gesessen hat, ist ihr diese Vorstellung in Erinnerung gekommen und sie wünscht sich, sie könnte, wie diese Ahnen, lange, lange einfach still sitzen. Wenn dann endlich die Freunde kämen, würde sie ihnen freundlich ihren Platz zeigen.

Es fällt schwer, sich diese Gedanken als Gedanken eines jungen Mädchens vorzustellen. Wir müssen uns überlegen, wie diese Überlegungen zu Ottilie passen. Ottilie möchte sich dem Leben verweigern. Sie träumt sich in eine Lage, in der sie in vollkommener Ruhe mit einer Gruppe Ebensolcher zusammensitzt – ohne Wünsche, ohne Sehnsucht, ohne irgendein Verlangen. Aus dieser Vorstellung spricht eine Todessehnsucht oder zumindest der Wunsch nach immerwährender Einheit und Ruhe.

Sie, die später jegliches Interesse an der Erhaltung ihrer Person ablegen wird, sieht schon hier eine andere Daseinsform als erstrebenswert an.

Es ist Herbst, die Zeit der Stoppelfelder. Ottilie sieht, dass dem Wind nicht mehr viel zu tun bleibt. Nur die Früchte künden noch von einem – wenn auch zur Zeit verborgenen – Wiedererwachen des Lebens. Es wird eine Zeit kommen, in der aus ihnen neues Leben entsprungen sein wird. Das Bild, das Ottilie uns hier bietet, kann auch als Metapher für Ottilies entfernten Geliebten, für Charlottes Schwangerschaft und das noch ungeborene Kind gelesen werden. Es sind Dinge heute noch im Verborgenen, die eines Tages an das Licht der Welt kommen werden.

„Säen ist nicht so beschwerlich als ernten“ (WV, S. 165), stellt Ottilie fest. Im Ablauf der Zeit hat sie nicht nur den Kreislauf der Natur beobachtet, sondern auch erlebt, wie ihre Liebe keimte, wuchs, reifte – und wie schwer es nun ist, über den Winter zu kommen. Ottilie sorgt im Garten für das nächste Frühjahr vor. Nur hier gehen ihre Gedanken deutlich in die Zukunft.

Abschiednehmen ist das Thema dieses Eintrages. Abschiednehmen, wenn eine Sache, ein Werk, zu Ende ist – das heißt, wenn sie auf dem Höhepunkt, ihrer Vollendung angekommen ist und damit der Vergänglichkeit ausgeliefert wird. Das ist vielleicht auch als Metapher für die Liebe Ottilies zu Eduards zu verstehen, die doch an ihrem Höhepunkt keine Fortsetzung erfahren darf.

III.3 Der sechste Tagebucheintrag

Die drei nächsten Tagebucheinträge entstehen zu der Zeit von Lucianes Besuch bei ihrer Mutter. Die große Unruhe und ständige Betriebsamkeit, das laute, temperamentvolle Wesen Lucianes verändern die Stimmung im Hause, zumal wegen ihr ständig weitere Gäste zugegen sind. Ottilie scheint von ihrem Schmerz abgelenkt zu sein. Ihre Notizen aus dieser Zeit befassen sich mit anderen Themen als zuvor. Dabei steht das sittliche Betragen des Menschen im Mittelpunkt, ein Thema, das Ottilie sicherlich durch die Wildheit Lucianes beschäftigt.

Weiterhin fließen Gedanken zur Kunst in ihr Tagebuch ein, doch sind diese allgemeiner gefasst als zuvor: „Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten“ (WV, vierter Tagebucheintrag, S. 165). Vergänglichkeit wird nur einmal deutlich thematisiert: „Es gibt keinen größern Trost für die Mittelmäßigkeit, als daß das Genie nicht unsterblich sei“ (WV, vierter Tagebucheintrag, S. 165). Solche Sätze stehen innerhalb einer Auflistung von Sentenzen und wirken wie eine Abschrift oder Zusammenfassung gesammelter Notizen.

Die Betrachtung der Natur tritt in dieser Zeit bei ihr in den Hintergrund. Ottilies Niederschriften werden zunehmend unpersönlicher. Ihre Sätze haben oft ein „man“ oder ein „wir“ als Subjekt. Hier wird schon in der Sprache deutlich, wie sie sich selbst immer mehr zurücknimmt.

Erst im sechsten, dem letzten Eintrag, tauchen die uns interessierenden Gedanken zu Vergänglichkeit, Abschied und Erinnern wieder auf. Dieser letzter Tagebucheintrag stammt aus dem folgenden Frühjahr. Charlottes Kind ist geboren. Der Erzähler teilt uns mit: Ottilie fühlt, „daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie diese Höhe schon erreicht zu haben. Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich fähig ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wieder zu sehen, wenn sie ihn nur glücklich wisse. Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals einem andern anzugehören“ (WV, S. 193).

Ihren letzten uns übermittelten Eintrag beginnt Ottilie mit der Überlegung, dass man gewöhnlich gute Gedanken, die wir gelesen oder gehört haben, für uns zur Aufbewahrung niederschreiben. Dagegen ließen wir Briefe von Freunden, in denen gleichwertige Gedanken stünden, nach einmaligem Lesen in der Schublade verschwinden, ohne je wieder hineinzuschauen. Bis wir sie eines Tages aus Diskretion vernichteten.

Sie nimmt sich vor, sich nicht so zu verhalten. Das kann nur bedeuten, dass sie die Gedanken Eduards für die Nachwelt aufbewahren möchte, seine Briefe immer und immer wieder liest bzw. die wichtigsten Sätze herausschreibt. So drängt sich der Gedanke auf, dass vielleicht auch schon vorher einige der Sätze Ottilies Zitate aus den Briefen Eduards sind. Das könnte insbesondere für die sentenzartigen Sätze gelten, die oftmals scheinbar ohne inneren Zusammenhang aneinandergereiht dastehen.

Ottilie sinnt nun darüber nach, wie sich am Ablauf der Jahreszeiten das eigene Zeitempfinden orientiert und sich darin auch verliert: „Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so kurz scheint und so lang in der Erinnerung! Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im Garten, wie Vergängliches und Dauerndes ineinander greift. Und doch ist nichts so flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht seinesgleichen zurücklasse“ (WV, S. 194).

Ottilie spricht vom „Jahresmärchen“ (WV, S. 194), in dessem „artigsten Kapitel“ (WV, S. 194), dem Frühjahr, wir uns wieder befinden. Die Frühlingsblumen vergleicht sie mit Überschriften oder Vignetten in einem Buch. Sie weisen auf das Kommende hin und sind somit voller Versprechungen und Zukunftsträumen. Doch auch dem Winter kann Ottilie Gutes abgewinnen. Die kahlen Bäume, durch die man hindurchsehen kann, „sind nichts, aber sie decken auch nichts zu“ (WV, S. 194). Das ist ein Zustand des Stillstandes, in dem wir von dem Vergangenen ebenso weit entfernt sind wie vom Zukünftigen. In diesem scheinbar zeitlosen Zustand ruhen die Anlagen für das Kommende.

Vergängliches und Dauerndes greifen ineinander. Wir selbst vergehen und hinterlassen doch Spuren, die selbst wiederum vergehen und Spuren hinterlassen. Kein Kreislauf vielleicht, wie er im Ablauf der Jahreszeiten erscheint. Eine Spirale vielleicht eher, in der wir uns um Vergangenes bewegen, uns aber langsam immer weiter vom Ursprung entfernen.

Über die Sätze von Freunden, die sie in ihrem Tagebuch aufbewahren möchte, und die Gedanken über das Wiederkehrende in der Natur gelangt Ottilie zur Bedeutung der Liebe. „Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten, ist nur eine Comédie à tiroir, ein schlechtes Schubladenstück. Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und eilt zur folgenden. Alles was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich zusammen“ (WV, S. 195).

Wenn wir Ottilies Gedanken folgen, bleibt da ohne die Nähe des Geliebten nicht viel übrig vom Menschenleben. Denn ein Leben ohne Liebe ist ein Leben ohne wirkliche Mitte. Es folgt eine Lebensepisode auf die andere. Eine ist so belanglos wie die andere. Man hat kein Bedürfnis, in einer von ihnen zu verweilen. Die wichtigen Dinge in einem solchen Leben zeigen kaum einen Zusammenhang. Ohne Lebensmitte fehlen auch Anfang und Ende. Und so endet Ottilies Tagebuch mit dem Satz: „Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden“ (WV, S. 195).

IV Schlussbetrachtung

Ich habe versucht, Ottilies Gedanken zu den verwandten Begriffen Vergänglichkeit, Abschied und Erinnern zu analysieren. Dabei stellten sich als wichtigste Aspekte die folgenden heraus: Abschied ist immer und in jeder Lebenssituation vorgezeichnet. Je kostbarer uns Mensch oder Werk sind, desto schwerer wiegt die Trennung. Um die Erinnerung wach und frisch zu halten, genügt Ottilie ein Bildnis, das nicht einmal besonders ähnlich sein muss. Es dient nur als Mittel dafür, sich in eine vorgestellte Nähe mit dem Entfernten zu versetzen.

Ottilies eigenes Bildnis hat in der Kapelle seinen Platz erhalten. Nach Ottilies Vorstellung könnte es sein, dass sie darin eine andere Daseinsform gefunden hat – so lange, bis auch diese Spur ihres Lebens vergeht.

Ihr Wunsch nach Aufhebung der Trennung vom Geliebten geht einher mit einer starken Sehnsucht nach einer Aufhebung von Bedürfnissen überhaupt. Darin liegt gleichzeitig eine Sehnsucht nach dem Tod. Ottilie wird uns als Person beschrieben, die äußerst mäßig in allem ist, was ihrer eigenen Person dient. Das äußert sich in ihrer überaus zurückhaltenden Art in Gesellschaft, ihrem zuweilen schon als unpassend wirkenden unterwürfigen Verhalten anderen Personen gegenüber und insbesondere auch in ihren Essgewohnheiten. Ottilies Weg aus ihrer aussichtslosen, schuldhaften Situation, in die sie nach dem Tod des Kindes geraten ist, führt konsequent nicht über ein Aufbegehren gegen das Schicksal zu einer irgendwie gearteten Aktivität. Sie geht den ihr allein zur Verfügung stehenden Weg und führt die Zurücknahme ihrer eigenen Person bis hin zum Tode durch Verhungern.

Ihre Sehnsucht nach Einheit mit dem Geliebten, nach einer Vollendung ihrer Liebe, führt sie zur totalen Entsagung und dem völligen Loslassen aller einstmals wichtigen Dinge.

Ottilies Tagebuch soll, so der Autor, den Leser als ein roter Faden durch den Roman begleiten, als „Faden der Neigung und Anhänglichkeit“ (WV, S. 134). Was haben diese Einträge Verbindendes? In jedem von ihnen müssten wir das Ganze erkennen können. Alles hängt in diesem Roman mit allem zusammen. Der rote Faden ist aber nur einer aus einem ganzen Bündel von Fäden, die zusammen das Tau bilden.

Ottilie gewährt uns mit ihrem Tagebuch einen Einblick in ein einzelnes Schicksal, das mit vielen anderen ein Gespinst von Leben bildet. An jeder Stelle, an der wir das Tau durchschneiden, blitzt etwas von dem roten Faden durch. Ebenso sieht an vielen Stellen, die wir in dem Buch aufschlagen, Ottilies Wesen hervor. Ihre Überlegungen zu den Themen Abschied, Vergänglichkeit und Erinnern versuchen, das Ganze des Daseins zu erfassen. Es kommen beide konträren Ansichten darin zu ihrem Recht: Die Vorstellung vom Leben als kostbarstem Gut ebenso wie vom Leben als vorübergehendem Zustand ohne Bestand.

V Literatur

Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. Stuttgart 1996 (im Text abgekürzt: WV).

Nemec, Friedrich: Die Ökonomie der „Wahlverwandtschaften“. München 1973. In: Münchner Germanistische Beiträge, Bd. 10, Hrsg: Betz, Werner und Kunisch, Hermann.

Gelfert, Hans-Dieter: Wie interpretiert man einen Roman? Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart 1993; darin: Der Roman als Prosagedicht. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809).

Heller, Erich: Goethe. In: Literarische Porträts von Grimmelshausen bis Brecht. Hrsg: Hinderer, Walter. Frankfurt/Main 1987.


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