Regie:
Alfred Hitchcock (1899 – 1980)
Hauptdarsteller:
der Lodger: Ivor Novello
Daisy Bunting, ein Mannequin:
June Tripp
die Vermieterin: Marie Ault
der Vermieter: Arthur Chesney
Joe, Polizeidetektiv: Malcolm Keen
Drehbuch:
Eliot Stannard nach dem Roman The Lodger von Marie Adelaide Lowndes
(von 1913; sie nannte sich auch Marie Belloc Lowndes)
Produktion:
Gainsborough 1926. Kinostart: 1927
Produzent:
Michael Balcon
Kamera:
Baron (Giovanni) Ventimiglia
Regieassistenz:
Alma Reville (Hitchcocks spätere Ehefrau)
Art Director/Produktionsdesign:
C. Wilfried Arnold; Bertram Evans
Cutter Titel:
Ivor Montagu
Titeldesign:
E. McKnight Kauffer
Dekorationsdesign:
Studio Islington
Stummfilm, s/w (nachträglich in der damals üblichen Weise koloriert)
Zum ersten Mal der eigene Stil
In dem berühmten Interview, das François Truffaut mit ihm führte, nannte Hitchcock The Lodger den
„ersten Film, auf den ich das anwenden konnte, was ich in Deutschland gelernt hatte. Ich bin in diesem Film ganz
instinktiv vorgegangen. Es war das erstemal, daß ich meinen eigenen Stil anwandte. Man kann sagen, daß The Lodger
eigentlich mein erster Film ist“ (Truffaut, S. 38).
Der eigene Stil Hitchcocks – was macht ihn aus? Woran erkennen wir seine persönliche Handschrift? Was macht sie
unverwechselbar?
Ich werde im Folgenden eine Analyse und Interpretation von The Lodger vornehmen und versuchen, das herauszuarbeiten,
was hier schon als Hitchcock-typisch anzusehen ist bzw. um festzustellen, wo Hitchcock noch anders agiert als in späteren
Werken.
Michael Balcon teilte Hitchcock Ende April 1926 mit, er hätte die Rechte an einem sehr erfolgreichen Buch
erworben. Es war der größte schriftstellerische Erfolg der Marie Belloc Lowndes und basierte auf der Geschichte von Jack the
Ripper. Stannard schrieb das Drehbuch. Hitchcock hatte bereits alle einzelnen Einstellungen geplant und mit Hilfe eines
Illustrators skizziert. Deko, Ausstattung, Schnitte, Einstellungen, alles war auf Papier bis ins Detail ausgearbeitet.
Balcon engagierte zwei der populärsten britischen Darsteller, Ivor Novello und June (Tripp), für die Hauptrollen. Anfang Mai
begannen die Dreharbeiten in den Islington-Studios. Hitchcock hatte ein offenes Ende für die Geschichte vorgesehen: Der
Lodger kann fliehen und es bleibt unklar, ob er der Mörder ist oder nicht. Aber es sollte anders kommen. Novello, der gut
aussehende und beliebte Darsteller, durfte nicht der Mörder sein. „Die Werbespezialisten regierten, und wir mußten das
Drehbuch so ändern, daß kein Zweifel daran blieb, daß er (Novello) unschuldig war“ (Hitchcock, Spoto I, S. 110).
Anfang Juli war The Lodger abgedreht. Im August fand die damals übliche Kolorierung im Labor statt (Grautöne, Braun
und Grün wurden zugefügt). Aber dann begannen die Probleme. Cutts, der frühere Chef Hitchcocks, wohl von Eifersucht auf dessen
berufliche Erfolge geplagt und selbst privat in einer Sackgasse angelangt, machte seinen Einfluss auf den Chef des Verleihs
der Balcon-Filme, C. M. Woolf, geltend. Woolf ließ den Film mit Pauken und Trompeten durchfallen. Er sollte ins Lager und
‚einfach vergessen‘ werden.
Balcon holte Ivor Montagu (22 Jahre alt), den politischen und gesellschaftlichen Sprecher der Londoner Film Society, der im
Vorjahr im Auftrag der Londoner Times über den Aufstieg der Deutschen auf dem Gebiet der Filmtechnik geschrieben hatte.
Montagu lobte den innovativen Stil des Films. Er meinte allerdings, man müsste die Zahl der Zwischentitel stark verringern
und einige Szenen sollte man neu drehen, um dem Zuschauer mehr Klarheit zu verschaffen. Das Dreieckmotiv
(die ‚Visitenkarte‘ des Mörders) wollte er mehr betonen und schlug deshalb vor, den amerikanischen Plakatdesigner
E. McKnight Kauffer hinzuzuziehen, damit das Motiv in den Zwischentiteln ebenfalls aufgegriffen würde.
Es war nicht leicht für Montagu, Hitchcock zu überzeugen. Aber schließlich erkannte Hitchcock die Möglichkeit, durch die
Ausführung von Montagus Vorschlägen seinen Film tatsächlich zu verbessern und nicht etwa banaler werden zu lassen. Spoto
berichtet, dass Hitchcock später die Verdienste Montagus in der Öffentlichkeit niemals würdigte, sondern jegliches Lob nur
auf sich bezog. Spoto beklagt den „Zug der Undankbarkeit“ an Hitchcock, der sich hier zum ersten Male zeigte
(Spoto I, S. 115).
Der Presse wurde The Lodger im September 1926 vorgeführt und zum größten Teil begeistert aufgenommen. Die Reaktionen
reichten von „bester britischer Film“ über „brillanter Regisseur“ bis „mit diesem Autor nicht
so gut beraten“ (Spoto I, S. 116). Das nun ungeduldige Londoner Publikum bekam The Lodger im Februar 1927 zu
sehen. Der Film wurde ein großer Erfolg.
Im Londoner Nebel geht – immer dienstags – ein Frauenmörder um. Seine Opfer sind jung und
blond. Neben den Leichen lässt der Mörder stets einen dreieckigen Zettel mit dem Text ‚The Avenger‘ (‚Der
Rächer‘) zurück. Bei Familie Bunting (Vater, Mutter, blonde Tochter Daisy) mietet sich ein geheimnisvoller, gut
aussehender Fremder ein. Daisy ist mit dem Polizisten Joe verlobt. Doch bald entwickelt sich zwischen ihr und dem Lodger
eine Liebesbeziehung.
Die Mutter beobachtet, wie der Lodger das Haus nachts heimlich verlässt. Als am anderen Morgen die Medien von einem weiteren
Mord in der vergangenen Nacht berichten, schöpft sie Verdacht. Gleichzeitig muss Joe feststellen, dass er dabei ist, Daisy
an den Fremden zu verlieren. Joe dringt mit seinen Leuten in das Zimmer des Lodgers ein, findet dort neben einer Pistole
Zeitungsausschnitte mit Berichten zu den Morden und eine Karte, auf der alle Tatorte eingezeichnet sind. Er nimmt den Lodger
fest. Diesem gelingt die Flucht in Handschellen.
Der Lodger trifft sich heimlich mit Daisy in der Nacht. Er berichtet, dass seine Schwester das erste Opfer des Mörders gewesen
ist und er seiner Mutter auf deren Sterbebett versprochen hat, den Mörder zu finden. Gemeinsam suchen sie eine Kneipe auf. Als
seine Handschellen bemerkt werden, flüchten sie wieder. Joe kommt in die Kneipe und erwähnt während eines Telefonates die
Handschellen. Augenblicklich stürzen die Kneipengäste, die den Lodger für den Frauenmörder halten, los und verfolgen ihn.
Er wird von der Menge fast gelyncht. In letzter Minute rettet ihn der Einsatz Joes aufgrund der Nachricht, dass der wirkliche
Mörder inzwischen gefasst worden sei.
Der Stummfilm The Lodger zeigt sich noch stark expressionistisch geprägt. Das finden wir in der auf
uns heute übertrieben wirkenden Spielweise der Schauspieler (Mimik, Gestik), aber auch in der Bildkomposition, die oft mit
Schlagschatten spielt. Zur expressionistischen Darstellung gehört auch „eine starke ästhetische Prägung durch den
Filmemacher“ (Monaco, S. 552), die es im Folgenden noch festzustellen gilt.
Im Vordergrund steht eine Kriminalstory. Es geht um einen Serienmörder, den wir nie zu Gesicht bekommen. Er bezeichnet sich
auf den bei den Opfern hinterlassenen Zetteln als ‚The Avenger‘. Die ganze Geschichte, die ihn zum Rächer werden
ließ und die vor dieser Kriminalgeschichte gespielt haben muss, bleibt im Dunkeln und interessiert Hitchcock überhaupt nicht.
Es gibt einen – zu Unrecht – Verdächtigten und eine wilde Verfolgungsjagd.
Die Kriminalgeschichte wird durchzogen von der Liebesbeziehung, die sich zwischen Daisy und dem Lodger entwickelt. Joe
verliert seine Braut an den Fremden. Daisy bekommt am Ende ihren ‚Prinzen‘, der sie mit ihren Eltern in seiner
Villa empfängt.
Immer wieder aber hat der Film auch komödiantische Aspekte, vor allem, sobald Daisy anwesend ist. In ihrer Gegenwart wird der
joviale Joe zum verliebten ‚Teigherzen-Ausstecher‘ und der Lodger zum scherzenden Freund.
The Lodger gehört also nicht einem Genre allein an. Wir können von einem Genre-Mix aus Kriminalgeschichte, Melodram
und Liebesgeschichte mit komödiantischen Einschüben sprechen.
Held und Heldin sind gegensätzlich konzipiert: Er, der Dunkle, Geheimnisvolle, Schweigsame, den ein
Erlebnis aus der Vergangenheit im Handeln einschränkt. Sie die Blonde, Fröhliche, Unbekümmerte, die stärkste Persönlichkeit
des Filmes.
Der Lodger ist ein junger, gut aussehender und wohl situierter Mann, den der Mord an der geliebten Schwester aus der Bahn
geworfen hat. Die Tat an sich hat ihn schon sehr getroffen. Dazu kommt das Versprechen, das er seiner Mutter auf deren
Sterbebett gab: den Mörder finden und der Gerechtigkeit zuzuführen. Wie sehr er von Erinnerungen und Schuldgefühlen beherrscht
wird, zeigen einige Szenen deutlich: Er kann die Bilder der blonden Mädchen an den Wänden seines Zimmers nicht ertragen.
Er geht unruhig auf und ab oder vergräbt den Kopf in den Händen. Als Joe ihn mit seinen Leuten verhaften will, bricht er
zusammen. Der Lodger wird als ein schwacher Mensch gezeigt, der eine Last aus seiner Vergangenheit mit sich herumträgt, der
er nicht gewachsen scheint. Er zeigt sich gelöst und zugänglich, wenn er mit Daisy allein ist. Dann lacht und scherzt er und
legt sein herrisches, insbesondere die Mutter einschüchterndes Gehabe ab. Er ist großzügig: Er will Daisy das kostbare Kleid,
in dem er sie während der Modevorführung gesehen hat, schenken, was ihr Vater jedoch ablehnt.
Daisy ist eine fröhliche junge Frau, stets zu Scherzen aufgelegt, humorvoll und schlagfertig. Sie arbeitet als Mannequin und
wohnt noch bei den Eltern. Die Kleider, die sie vorführt, sind für sie unerschwinglich. Daisy ist bodenständig. Sie weiß, was
sie will, und handelt entschlossen. Das zeigt sich deutlich, wenn sie Joe endgültig in seine Schranken weist, als er ihr
Treffen mit dem Lodger unter der Laterne stört. Und vor allem, wenn sie dem Geliebten während der Flucht beisteht.
Joe, der rechtschaffene Polizist und willkommene künftige Schwiegersohn, ist ein netter Kerl. Er ähnelt im Wesen sehr seinem
künftigen Schwiegervater, mit dem er sich prächtig versteht, und macht auch sonst einen etwas altväterlichen Eindruck. Joe
versteht es nicht, Daisy wirklich zu respektieren. Wenn er ihr im Spaß Handschellen anlegt, ist das in Wirklichkeit gar nicht
so spaßig gemeint. Er will sie an sich binden, sie heiraten. Aber eigentlich will er sie an sich fesseln, um sie nicht zu
verlieren. Joes guter Charakter zeigt sich nach all seiner Eifersucht und seinem Besitzgebaren, wenn er alles daransetzt, den
zu Unrecht verfolgten Lodger vor dem Lynchmord zu bewahren.
Mr. und Mrs. Bunting sind einfache Menschen, die untervermieten müssen, um einen etwas besseren Lebensstandard zu haben. Er
ist zu Hause der Pascha und tut dort nicht viel Nützliches. Seine Frau ist unentwegt mit dem Haushalt beschäftigt. Sie ist
auch diejenige, die alles mitbekommt, was im Hause oder mit Daisy los ist.
Hitchcock erzählt die Geschichte weitgehend linear. Einzige Ausnahme: Wenn der Lodger Daisy die
Vorgeschichte erzählt, sehen wir in Rückblenden das Geschehen. In The Lodger weiß der Zuschauer über weite Strecken
nicht mehr als jeder Londoner Zeitungsleser: Der ‚Avenger‘ mordet in nebligen Nächten blonde junge Frauen. Seine
Identität ist unbekannt. Da taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, den Hitchcock gezielt als Verdächtigen aufbaut.
Hitchcock ist berühmt für seine besondere Art, Spannung zu erzeugen. Dabei ist ihm Suspense stets das wichtigste Mittel, den
Zuschauer zu fesseln. Das funktioniert, indem dem Zuschauer ein Informationsvorsprung vor dem Protagonisten gegeben wird.
Dadurch weiß er um die Gefahr, die diesem droht, identifiziert sich intensiv mit ihm und fiebert unter Umständen sehr viel
mehr als Held oder Heldin, die ahnungslos in einen Hinterhalt geraten oder der falschen Person vertrauen. Suspense finden wir in
allen wichtigen Hitchcock-Filmen als sein Markenzeichen.
Schleicht der Lodger nachts heimlich die Treppe hinunter, bekommt der Zuschauer das zusammen mit der lauschenden Mrs. Bunting
mit. Der Zuschauer sieht abwechselnd die schleichende und die horchende Person. Er ist durch das unmittelbar zuvor Gezeigte
alarmiert: Alles erinnert an die Morde: die Laufschrift, die Mädchen in der Garderobe, marschierende Polizisten, die
Vermummung des Lodgers. Der Zuschauer weiß, dass gerade wieder ein Mord geschehen ist. Wenn Mrs. Bunting, kaum dass er aus
dem Haus ist, im Zimmer ihres Mieters nach irgendetwas Unbestimmtem sucht, ist die Spannung groß. Dann sieht er, wie der
Mieter sich bereits wieder dem Hause nähert, während Mrs. Bunring sich noch in seinem Zimmer aufhält. Dieser Wissensvorsprung
macht die Szene so ungeheuer spannend. Wir würden zwar gerne mit Mrs. Bunting etwas über ihren Mieter herausfinden, aber sehr
viel mehr wünschen wir, dass er sie nicht beim Schnüffeln erwischt – weil wir ihm alles zutrauen und um das Leben der
Frau fürchten.
Nachdem Joe in der Kneipe durch sein Telefonat gerade den Aufbruch der Meute verursacht hat, die jetzt unterwegs ist, den
vermeintlichen Mörder zu lynchen, erfährt er, dass ein Unschuldiger gejagt wird. Die endlos lange Sequenz gipfelt darin,
dass der Verfolgte gefesselt und hilflos dem Mob ausgeliefert ist – nur der glückliche Umstand, auf
der ‚falschen‘ Seite des Zaunes zu hängen, verhindert, augenblicklich erschlagen zu werden. Zu dieser Zeit weiß
der Zuschauer mehr als der Lodger und Daisy und auch mehr als die Meute, denn alle können nicht ahnen, dass der wirkliche
Mörder inzwischen gefasst worden ist. Die Gefahr ist riesengroß und es scheint kein Entrinnen möglich. In dieser Situation
entsteht eine ungeheure Spannung. Wir zittern mit Joe, er möge rechtzeitig kommen, um den Lodger zu retten.
Hitchcock führt den Zuschauer in eine Umgebung, die künstlerisch sehr gut durchdacht und eingesetzt ist.
Haupthandlungsort ist die Wohnung der Buntings. Die Küche liegt im Souterrain, im Parterre das Wohnzimmer, im ersten Stock
hat man untervermietet und darüber liegen die Schlafräume. In der Küche findet das Familienleben statt. Es gibt einen
Haupteingang im Parterre und einen Nebeneingang mit einer Außentreppe direkt hinunter zum Souterrain.
Die Souterrain-Wohnung kann gleichzeitig als ein Bild für die Beschränkung sowie die Erweiterung des Blickfeldes betrachtet
werden. Wie auf einer Bühne ist die Küche der Buntings zu sehen, im Hintergrund ein Fenster. Durch das Fenster erblickt man
nur die herabführende Treppe, auf der jeder Besucher sich noch vor seinem Klopfen ankündigt. Es ist ein Bild im Bild, zeigt
aber nur einen winzigen Ausschnitt der Außenwelt mit Straße, Verkehr, Passanten.
Treppen spielen eine weitere wichtige Rolle in dem Film. Neben den beiden Außentreppen gibt es das Treppenhaus, in dem
wichtige Szenen stattfinden. Durch seine umlaufende Gestaltung verhindert es zu jedem Moment eine vollkommene Sicht. Immer
ist nur ein Ausschnitt zu sehen, nie das Ganze. In dieser Beziehung ähnelt es dem Ausblick aus dem Souterrain-Fenster. Die
Mannequins schreiten über eine breite Treppe in den Vorführraum, sie steigen bildhaft in ihren luxuriösen Roben aus einer
höheren Sphäre zum Publikum hinab. Hitchcock zeigt auch den erleuchteten Ballsaal als eine Welt, der eine breite, großzügige
Außentreppe vorgelagert ist.
Die Tatorte sind unterschiedlich. Der Mord an der Schwester des Lodgers findet in einem Ballsaal statt, die beiden anderen
auf öffentlichen Plätzen im nächtlichen Londoner Nebel. Dabei ist der letzte Tatort derselbe Platz, an dem Daisy sich mit dem
Lodger auf dessen Flucht trifft.
Hitchcock nutzt die Vorstellungen und Ängste des Zuschauers vor unüberschaubaren Orten. Dort kann sich das Böse, der Mörder,
verbergen: im Nebel, in der Dunkelheit, an abgeschiedenen oder unübersichtlichen Orten. Diesen stellt er die Glitzerwelt der
Mode bzw. einen Ballsaal gegenüber, um den Unterschied noch deutlicher zu machen.
Hitchcock hat wesentlich darauf Einfluss genommen, wie die Zeit für den Zuschauer zu vergehen hat. So
zeigt er zu Beginn, wie sich die Nachricht von dem Mord in Windeseile verbreitet. Die Geschwindigkeit dieses Vorgangs wird
zum einen durch Aktionen gezeigt, die schnell ablaufen: Menschen eilen, Fahrzeuge rasen, Maschinen hämmern. Zum anderen wird
dieser Eindruck noch durch eine rasche Schnittfolge verstärkt. Dabei sind die verschiedensten Kommunikationsmittel bzw. der
Entstehungsprozess und die Verbreitung der Nachricht zu sehen: Telefon, Fernschreiber, Schreibmaschine, Rotationsmaschinen,
Zeitungsverkäufer. Zeit wird gerafft, wenn die Schnelligkeit des Geschehens gezeigt werden soll. Auch die Verfolgungsszene
ist mit schneller Schnittfolge dargestellt.
Zeit wird gedehnt, wenn es spannend wird. Verlässt der Lodger nachts heimlich sein Zimmer, so scheint es unendlich lange zu
dauern, bis er die Treppe hinuntergeschlichen ist. Dabei erfolgt wiederholt eine Schnittfolge zwischen ihm und Mrs. Bunting,
die in ihrem Bett sitzt und lauscht. Die Zeit wird gedehnt durch wiederholte Schnitte auf unveränderte bzw. kaum veränderte
Situationen.
Der Blick auf die Uhr dient immer wieder zur Orientierung, des Zuschauers oder einer mitwirkenden Person: Im Zimmer des
Lodgers blickt Mrs. Bunting gedankenverloren auf die Tischuhr auf dem Sekretär. Später kontrolliert sie mit einem Blick auf
den Wecker die Kuckucksuhr, um sich über den Zeitpunkt der nächtlichen Rückkehr ihres Lodgers Gewissheit zu verschaffen. Der
Vater zieht beunruhigt seine Taschenuhr hervor, wenn Daisy abends lange mit dem Lodger ausbleibt. Zwischentexte geben an,
wenn ein Zeitsprung vorliegt: „Late that night“, „The same evening“.
In diesem Film über den Londoner Nebel spielt Licht eine wichtige Rolle. Hitchcock fühlte sich der
Ästhetik des Expressionismus verpflichtet. Er setzt Licht und Schatten fast wie handelnde Personen ein.
Bewegtes Licht – bewegte Schatten
Hitchcock nutzt Laufschrift und Leuchtreklame geschickt, um Zwischentitel oder -texte im Stummfilm zu ersetzen. Dabei sind
die Bewegungseffekte optisch reizvoll. Pulsierende und bewegte Lichter vermitteln dem Zuschauer eine moderne
Großstadtatmosphäre.
Nachdem wir in der Eingangsszene das schreiende Frauengesicht gesehen haben, erscheint unvermittelt die wiederholte
Laufschrift: „To night ‚golden curls‘“. Nach dem Auffinden der Leiche wird die Nachricht bald auch
an der Fassade eines Pressehauses als Laufschrift verkündet: „another avanger crime ...“. Wenn nun noch einmal
die Leuchtreklame für die ‚golden curls‘ zu sehen ist, sind wir unvermittelt zwischen den Trägerinnen der goldenen
Locken in der Garderobe der Modenschau.
Die Laufschrift verlangt die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers, um den vollständigen Text zu lesen. Die – teilweise
blinkende und auch noch nach unten gespiegelte – Leuchtreklame für die ‚golden curls‘ setzt wegen ihres
unmittelbaren Zusammenhanges mit dem Mord einen wichtige Akzent für die Atmosphäre: Wenn sie später wieder erscheint, erwarten
wir den nächsten Mord und so geschieht es auch.
Wenn Mrs. Bunting nachts heimlich die Wohnung des Lodgers betritt, werfen vorbeifahrende Autos blitzende Lichtmuster an die
Wand. Mrs. Bunting kennt das und ignoriert es. Den Zuschauer beunruhigt es, suggeriert doch das Licht drohende Entdeckung.
Das erste, was wir vom geheimnisvollen Lodger zu sehen bekommen, ist sein Schatten, wenn er auf die Tür der Buntings zu geht.
Wenig später dann seine verschwommene Silhouette vor dem leuchtenden Nebel. Wenn Joe mit seinen Männern in das Haus der
Buntings stürmt, um den Lodger festzunehmen, sehen wir durch die offen stehende Tür draußen nur die dunkle Nacht, aber keinen
Nebel. Als der Lodger kurz darauf durch diese Tür flieht, verschwindet sein Umriss sofort in dichtem Nebel. Vom Mörder zeigt
uns Hitchcock nur den Schatten, den dieser auf sein Opfer wirft, wenn er sich ihm nähert.
Unbewegtes Licht
Licht und Schatten werden zur Rauminszenierung eingesetzt. Das wird am deutlichsten im Schlafzimmer Mrs. Buntings. Das riesige
bizarre Muster an der Wand über ihrem Bett beherrscht den Raum. Es bildet grotesk verzogen das Rechteck des gegenüberliegenden
Sprossenfensters ab. Wenn Mrs. Bunting sich allmählich aufrichtet, füllt ihr Schatten einen Teil dieses Musters aus. Eine
Laterne steht direkt unter dem Fenster. Das sehen wir auch, wenn Mrs. Bunting dem Lodger nachblickt: Auf dem Gehweg ist ein
ovaler Lichtkegel zu sehen.
Mehrere dreieckige Lichtkegel begegnen uns bei der Laterne an der Bank, wo der Mord passiert. Hier hält das künftige Opfer
inne, um im Schein der Laterne die Strümpfe zu richten. Der Lichtflecken wird bald vom Schatten des Mörders verdeckt.
Strahlend hell erleuchtet sind die Räume der Modevorführung und auch der Ballsaal. Reichtum und Luxus präsentieren sich in
einer Überfülle an Licht. Licht verheißt Sicherheit. Um hier erstmals zu morden, muss der Mörder die Sicherungen herausdrehen.
Erst im Dunkel schlägt er zu.
Orte, an denen Licht und Schatten hart aufeinander treffen, wirken bedrohlich. Schon im Vorspann wird die Silhouette eines
Mannes wiederholt vor hellem Hintergrund gezeigt.
Wie geschickt Hitchcock inszenierte, möchte ich an einigen Szenen belegen.
Für das erste Auftreten des Lodgers setzt Hitchcock die fröhliche, lockere Stimmung in der Küche der Buntings gegen das
Dunkle, Drohende, das von außen in die heile Welt hereindringt. Wir sehen nach einem unvermittelten Schnitt eine Haustüre,
darüber die Unheil verkündende Nummer ‚13‘ in dunkler Nacht. Ein menschlicher Schatten bewegt sich darauf zu.
Die Kamera nimmt hier die subjektive Position des Mannes ein, der sich der Tür nähert. Vor dem Eingang angekommen, hebt die
Person die Hand und betätigt den Türklopfer. Damit taucht die Figur aus der Schattenwelt in die reale Filmwelt ein.
Schnitt. Es wird gezeigt, wie sich die fröhliche Gesellschaft in der Küche auflöst. Schnitt. Wir sehen in einer Totalen den
Flur mit der Haustüre im Zentrum, links die nach oben führende Treppe, rechts Zimmertüren und eine Topfpflanze. Mrs. Bunting
geht in die Tiefe des Bildes hinein zur Tür. Der Zuschauer ist nur ein Beobachter, der sich zurückhält. Während Mrs. Bunting
gerade beginnt, die Tür zu öffnen, sehen wir ihren Kopf und Rücken für einen Moment ganz nah und meinen, wir könnten über
ihre Schulter durch den Türspalt sehen. Hitchcock lässt uns für einen Moment glauben, wir könnten mit Mrs. Bunting ganz nahe
an das Geschehen heran. Gleichzeitig suggeriert er durch den Blick auf ihren Hinterkopf und Rücken aber auch eine ihr drohende
Gefahr.
Es wird aber sofort wieder in die Totale zurückgegangen. Jetzt öffnet sie die Tür ganz und im Gegenlicht leuchtender
Nebelschwaden sieht man die hohe, schlanke Gestalt eines Mannes mit Hut schemenhaft auf der Schwelle stehen. Nach dem ersten
gruseligen Eindruck der vermummten undeutlichen Figur rückt die Kamera näher heran. Das erschrockene Gesicht Mrs. Buntings
und das anfangs ausdruckslose, dann ‚erwachende‘ des Fremden werden abwechselnd in Großaufnahme gezeigt. Es gibt
fast keine Veränderung in diesen Gesichtern, auf denen die Kamera lange verweilt. So konzentriert sich die gesamte
Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Augen des Fremden. Der reißt sie immer weiter auf, rollt sie umher, als erwache er aus
einer unwirklichen Situation und wolle sich vor einer ersten Bewegung über seine Lage orientieren (Zitat aus Dr.
Caligari von Césare). Als er schließlich das Haus betritt, nimmt die Kamera wieder die Position wie anfangs ein: Die Tür
befindet sich in der Bildmitte. Mrs. Bunting steht jetzt links, in unterwürfiger Haltung etwas vorgebeugt. Der Lodger bewegt
sich extrem langsam in das Haus hinein und schließt die Tür, ohne sich dabei zu drehen und ohne die Frau einen Moment aus den
Augen zu lassen. Hier wird er in einer leichten Untersicht gezeigt, so wie ihn Mrs. Bunting wahrnehmen muss. Danach steht er
rechts im Bild und setzt mit sehr langsamen Bewegungen seinen Hut ab.
Durch die Art, wie Hitchcock den abendlichen Besucher einführt, haftet diesem vom ersten Augenblick an etwas Geheimnisvolles,
Furchteinflößendes an. Zu ihm gehören die Nacht, der Schatten, der Nebel, das Schweigen. Seine Positionierung in der Mitte
der Türöffnung, umgeben von Nebelschwaden, lässt ihn wie eine unwirkliche, dämonische Gestalt aus einer anderen,
geheimnisvollen Welt erscheinen.
Die Langsamkeit seiner Bewegungen erhöht die Spannung. Durch die Großaufnahmen werden die Emotionen der beiden Personen
gezeigt. Die Haltung Mrs. Buntings am linken Bildrand ist devot, die des Lodgers am rechten Rand starr und steif und sehr
gerade. Ebenfalls sehr ‚gerade‘, sehr geometrisch ist die Bildkomposition, wenn die Kamera aus der Totalen auf
die Tür hält.
Ein weiteres Beispiel für Hitchcocks Methode, Aufmerksamkeit und Emotionen des Zuschauers zu lenken, sehen wir, wenn Daisy
dem Lodger am ersten Morgen das Frühstück serviert. Zu Beginn steht Daisy mit dem vollen Tablett vor der Tür und meldet ihr
Kommen an. Wir sehen danach den Lodger in eine Zeitung vertieft in seinem Zimmer links im Vordergrund am Tisch sitzen. Dabei
ist die Kamera auf Augenhöhe einer stehenden Person. Daisy betritt den Raum durch die Tür rechts. Auf ihren Gruß erhebt er
sich rasch und beide gehen aufeinander zu. Die Kamera bleibt unbeweglich wie beim ersten Auftritt des Lodgers auch. Aber die
Personen bewegen sich flüssiger und sind nicht voreinander in einem Abstand erstarrt.
Nachdem sie das Tablett auf den Tisch gestellt und er sich wieder gesetzt hat, sehen wir beide abwechselnd in Nahaufnahme:
Sie, zu ihm hinunterblickend, er zu ihr hinaufblickend, dazwischen geschnitten die Sicht auf beide Personen am Tisch. Dann in
Großaufnahme das Tablett. Die Hand des Lodgers ergreift ein Messer und hebt es an. Dabei hält er es waagerecht nach rechts
auf Daisy zu, so dass es wie eine Waffe wirkt. Es wird groß das Gesicht des Lodgers im Profil gezeigt. Sein gebannter Blick
geht in die gleiche Richtung wie das Messer. Dann sehen wir ihn aus geringfügig größerem Abstand mit aufgestütztem Ellbogen
am Tisch sitzen, dabei mit dem Messer auf den uns frontal zugekehrten Leib Daisys zielend. Mit einer blitzschnellen Bewegung
schnickt er mit der Messerspitze eine Fliege von Daisys Bluse. Schnitt. Daisys verträumtes Gesicht in Großaufnahme, sie ist
kein bisschen erschrocken. Als sie kurz darauf das Zimmer verlassen will, springt der Lodger auf, lehnt sich mit dem Rücken
an die Tür und hält den Türgriff. Noch einmal bangt der Zuschauer kurz, dann öffnet der Lodger die Tür weit und Daisy geht
hinaus. Gezeigt wird hier, wie der Lodger von Daisy angetan ist und eigentlich nicht möchte, dass sie schon wieder geht.
Ein paar Tage später sitzen beide, jetzt schon vertrauter, in seinem Zimmer beim Schachspiel. Die Szene wirkt arrangiert:
zentriert im Hintergrund der brennende Kamin, davor in der Mitte ein Tisch, daran links der Lodger, rechts Daisy. Er hat den
Kopf in die linke Hand gestützt, sie trommelt ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch. Wir sehen beide anschließend
abwechselnd halbnah beim Schachspiel. Als sie ihm eine Figur wegnimmt, deutet er mit waagerecht ausgestrecktem Zeigefinger
in einer Haltung, die sehr stark an die Szene mit dem Messer erinnert, auf Daisy und warnt freundlich: „Be careful,
I'll get you yet.“
Wenig später fällt Daisy eine Figur herab. Jetzt ändert die Kamera in dieser Szene erstmals ihren Standort völlig: Wir sehen
Daisy von hinten, wie sie sich seitlich auf der Suche nach der Figur vom Stuhl beugt. Der Lodger ist jetzt halb durch sie
verdeckt. In einer neuen Einstellung ist Daisys Hinterkopf ganz nah zu sehen, im Hintergrund beugt sich auch der Lodger
etwas hinunter, lässt dabei aber Daisy nicht aus den Augen. Schnitt, Großaufnahme: Die Hand des Lodgers greift nach einem
Schürhaken. Schnitt. Wieder Daisys Kopf, im Hintergrund die angehobene Hand des Lodgers mit dem Schürhaken. Jetzt ist die
Spannung groß, aber Hitchcock erzählt erst einmal, was sich inzwischen in der Küche ereignet. Erst dann sieht man das
lodernde Kaminfeuer, in dem ein Schürhaken stochert.
In der Fortführung der Szene sehen wir, wie der Lodger und Daisy jetzt ganz nah an den Tisch gerückt sind und beide Oberkörper
weit nach vorne gebeugt haben. Das Spiel ist nur noch ein Vorwand, um sich nahe zu sein. Der intimste Moment kommt, als er
ihr Haar berührt. Als sich kurz darauf beide wieder langsam und widerstrebend voneinander entfernen und gerade setzen,
geschieht das, weil sie Mrs. Bunting kommen hören.
In der berühmtesten Szene des Filmes – der Lodger schleicht sich nachts aus dem Haus – hat Hitchcock meisterhaft
das Treppenhaus in Szene gesetzt. Dabei steht es im Wechselspiel mit dem Schlafzimmer Mrs. Buntings.
Die nächtliche Szene beginnt mit einem Blick durch das geschwungene Treppengeländer auf die Tür zur Wohnung des Lodgers,
links im Bild, wobei die Kamera ihre Position einige Stufen niedriger eingenommen hat. Die Tür öffnet sich und etwas Licht
fällt heraus, als der Lodger, vermummt und mit der rechten Hand auf der Brust heraustritt. Er blickt die Treppe hinauf.
Schnitt. Mrs. Buntings Schlafzimmer. Der Raum wird beherrscht von dem riesigen verzerrten geometrischen Bild, welches das
durch das Fenster einfallende Licht auf die Wand zeichnet. Davor steht Mrs. Buntings Bett. Sie ist wach. Dann sehen wir sie
durch das metallische Gitter des Kopfteiles ihres Bettes, jetzt aus der Nähe. Sie richtet sich etwas auf und dreht sich dem
Betrachter zu. Schnitt. Der Lodger greift, während er weiterhin nach oben blickt, hinter sich nach der Tür. Schnitt. Mrs.
Bunting hat sich etwas mehr aufgerichtet und dreht horchend den Kopf. Schnitt. Jetzt sehen wir den Lodger aus geringerer
Entfernung. Er blickt immer noch nach oben. Schnitt. Mrs. Bunting noch immer horchend. Schnitt. Der Lodger wieder etwas
entfernter als anfangs. Er macht einen Schritt zurück und löscht das Licht in seinem Zimmer. Dann schließt er die Tür und
geht nach rechts die Treppe hinunter. Schnitt. Mrs. Bunting sitzt jetzt in ihrem Bett. Wir sehen ihr Zimmer wie in der
ersten Einstellung. Schnitt. Jetzt blickt die Kamera von unten die Treppe hinauf. Der Lodger kommt rasch gehend herunter,
die rechte Hand auf dem Geländer. Schnitt. Mrs. Bunting im Bett sitzend, jetzt wieder halbnah. Schnitt. Die Kamera blickt
senkrecht das Treppenhaus hinunter. Dabei bildet das Geländer ein langgestrecktes Hochoval. Die Hand des Lodgers gleitet
im Hinuntergehen zügig einmal von links nach rechts den Bogen entlang. Schnitt. Mrs. Buntings Gesicht in Großaufnahme, von
schräg oben: Sie sieht den Betrachter beunruhigt und böse an. Schnitt. Der Lodger ist im Parterre angelangt und eilt nun
vom Ende der Treppe ganz links im Bild auf die Haustüre, die sich extrem am rechten Bildrand befindet, zu. Schnitt. Mrs.
Bunting wieder halbnah im Bett sitzend. Schnitt. Der Lodger öffnet die Tür einen schmalen Spalt und drückt sich vorsichtig
hindurch. Schnitt. Mrs. Buntings Zimmer wie in der Eingangsszene, sie jetzt aber sitzend. Dann wie in der zweiten Szene durch
das Kopfende ihres Bettes. Wieder wendet sie sich dem Zuschauer zu und sieht ihn intensiv an. Schnitt. Die Haustür wird
zugezogen.
An diesen Beispielen wird deutlich, wie Hitchcock es hier verstanden hat, mit sehr geschicktem Einsatz von Licht und Schatten,
von Inszenierung im Bild und Schnitt den Zuschauer genau so zu manipulieren, wie er es beabsichtigte. Wir verdächtigen den
vermummten Mann, der aus dem Nebel kommt. Wir erkennen ‚augenblicklich‘, dass sich etwas zwischen ihm und Daisy
anbahnt. Wir trauen ihm alles zu, wenn er mit dem Messer oder dem Schürhaken hantiert und Kamera und Schnittfolge geschickt
die Akzente setzen. Wir spüren das Misstrauen Mrs. Buntings, wenn sie nachts auf Ungewöhnliches in ihrem Hause lauscht.
Wichtigstes Symbol – sichtbar und unsichtbar – ist das Dreieck in diesem Film. Unsichtbar
steht es für die Dreiecksbeziehung zwischen Daisy, Joe und dem Lodger.
Sichtbar wird es auf den ‚Visitenkarten‘ des Avengers, die an den Tatorten aufgefunden werden. Polizei und
Lodger kennzeichnen die Tatorte auf ihren Karten mit kleinen Dreiecken. Aber auch in den Zwischentiteln spielt es eine
Rolle: Schon im Vorspann schließt und öffnet sich ein dreieckiger Fächer um die Silhouette eines Mannes mit Hut. Später
kündigt ein Dreieck als Zwischenbild stets Daisy an, anfangs zusätzlich mit ihrem Namen.
Der Zuschauer hat das Dreieck neben den Leichen gesehen. Wenn Hitchcock es dreifach geschachtelt in den Zwischentiteln nutzt,
um Daisy anzukündigen, stellt der Betrachter zwischen ihr und den Toten eine Verbindung her. Unwillkürlich fürchtet er um
Daisys Leben.
Dreieckige Formen finden sich auch im Bildaufbau, etwa an der Wand in Mrs. Buntings Schlafzimmer, wo der Schatten des
Laternenmastes das schräge Viereckmuster des Sprossenfensters in Dreiecke zerschneidet. Auch die Lichtkegel der Laterne,
unter der ein Mord geschieht, bilden langgezogene spitzwinklige Dreiecke.
Als weiteres wichtiges Symbol setzt Hitchcock Fesselungen ein. Joe spielt mit seinem ‚brandneuen Paar‘
Handschellen, voller Stolz, dass ihm der Avenger-Fall übertragen wurde. Er spielt Daisy vor, welches Gesicht der Mörder
machen wird, wenn Joe ihm einen Strick um den Hals legt. Unmittelbar danach sagt er: „I'll put a ring round Daisy's
fingers.“ Die Ähnlichkeit der Bilder verstimmt Daisy. Als Joe ihr kurz darauf im Scherz die Handschellen anlegt,
hört der Spaß für sie endgültig auf.
Hitchcock schafft hier eine Verbindung zwischen Ehe und Gefangenschaft, zwischen Liebe und Verbrechen. Der Strick um den
Hals – das Ende des Mörders. Der Ring um den Finger – das Ende der Liebe? Joes unbeholfener Versuch, Daisy an
sich zu binden, geht völlig daneben und der Zuschauer ahnt, dass die fröhliche Daisy sich niemals – weder von Joe
noch von einem anderen Mann – Fesseln der einen oder anderen Art anlegen lassen wird. Der Lodger erträgt den Anblick
des gefesselten Mädchens auf dem Bild in seinem Zimmer nicht. Er selbst muss in den schlimmsten Augenblicken seines Lebens,
hilflos an einen Zaun gefesselt, den Tod fürchten.
Gleich zu Beginn des Filmes sehen wir die Laufschrift „golden curls“ im Wasser gespiegelt. Wenig später erschreckt
ein Scherzbold die Zeugin, als sie in einer spiegelnden Fläche am Kiosk sein vermummtes Zerrbild sieht. Spiegelungen werden
am selbstverständlichsten in den Garderoben der Modenschau benutzt: Hier schminken und frisieren sich die Mannequins und
reißen ihre blonden Lockenperücken nach dem Auftritt von den Köpfen. Wichtige Spiegelszenen spielen im Zimmer des Lodgers.
Dort hängt ein großer Spiegel über dem Kamin. Beim ersten Betreten des Raumes erblickt er die Mädchen-Bilder an den Wänden.
Die Kamera zeigt uns im Spiegel eines der Bilder und den Lodger, der es betrachtet. Vor dem Spiegel sehen wir gleichzeitig
den Lodger. Es wird eine Beziehung geschaffen zwischen dem realen Mann und einer irrealen oder vergangenen Welt im Spiegel.
Später an diesem Abend steht er hier und birgt den Kopf verzweifelt in den Händen. Als Daisy eintritt, wendet er sich nicht
auf dem kürzesten Weg nach links zu ihr, sondern vollzieht fast eine ganze Drehung nach rechts, bis er sie erblickt. Das wirkt
sehr merkwürdig und lässt sich nur dadurch erklären, dass er sich so in sein anderes Ich, das Spiegelbild, versenkt hat, dass
er meint, sich aus diesem herausdrehen zu müssen. Der Spiegel steht für die Zerrissenheit der Person, für das Zweideutige an
ihr, den Doppelgänger, für Gut und Böse schlechthin. Aber auch für eine andere Welt hinter der realen.
Die Bilder im Zimmer des Lodgers zeigen Gemälde blonder Frauen. Für ihn sind sie alle Symbole für die getöteten jungen Frauen,
besonders natürlich seine Schwester. Sie blicken ihn an und erinnern ihn auf unerträgliche Weise an den Grund seines
Aufenthaltes. Er lässt alle Gemälde von den Wänden entfernen. In seiner Tasche bewahrt er ein Bild seiner Schwester auf.
Es hat einen sehr hohen emotionalen Wert für ihn. Er bricht zusammen, als Joe das Bild entdeckt. Seine Reaktion im
Zusammenhang mit Bildern ist überzogen und macht ihn verdächtig.
Nach der Untersuchung von The Lodger bleibt die Klärung der eingangs gestellten Frage: Zeigt der
Film, wie Hitchcock sagte, bereits seine eigene Handschrift? Im Folgenden werde ich die in The Lodger festgestellten
Charakteristika der Inszenierung mit denen späterer Hitchcock-Filme vergleichen.
Die Kombination aus verschiedenen Genres findet man durchweg in allen späteren Filmen Hitchcocks. Mord und Liebe sind immer
nah beieinander angesiedelt. Ein oder beide Partner geraten unversehens in eine mörderische Geschichte, werden mit dem Tode
bedroht und erkennen mit dem gemeinsam überstandenen Abenteuer, dass sie einander wirklich lieben. Beispiele aus verschiedenen
Jahrzehnten: Das Fenster zum Hof (1953): Die komplizierte Liebesbeziehung zwischen Jeff und Lisa klärt sich mit der
Aufklärung des Mordes. Marnie (1963/64) zeigt tragische Momente: Die kindliche Mörderin ist als erwachsene Frau
neurotisch und unfähig zur Liebe. Sie stiehlt zwanghaft und findet schließlich über die schmerzhafte Konfrontation mit der
Vergangenheit zur ‚Normalität‘ zurück. Auch die Agenten- und Spionagethriller wie z. B. Eine Dame verschwindet
(1937/38), Der unsichtbare Dritte (1958/59), Der zerrissene Vorhang ((1965/66) erzählen immer auch eine
Liebesgeschichte bzw. zeigen komödiantische oder auch tragische Aspekte. Der Genre-Mix, der sich in The Lodger zeigt,
ist auf jeden Fall bereits ein wichtiges Kennzeichen für Hitchcocks Handschrift.
Bei den Charakteren zeigt sich das nicht so eindeutig. Der männliche Protagonist ist bei Hitchcock oft ein bindungsscheuer
Einzelgänger, der erst durch den Einsatz der weiblichen Partnerin wieder ins normale Leben und zu sich selbst zurückfindet.
Das ist auch schon in The Lodger verwirklicht, dem Film, dessen rätselhafte Titelfigur nicht einmal einen Namen besitzt
und die damit in ihrer Identität noch unbestimmbarer bleibt. Der Lodger ist eine typische männliche Hitchcock-Figur. Er
gerät ohne eigenes Verschulden in schwierigste Umstände, die ihn in Lebensgefahr bringen. Dabei ist er kein Held im
eigentlichen Sinne, sondern vielmehr durch ein zurückliegendes Ereignis psychisch verwundet, misstrauisch und von
Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen gepeinigt. Der Lodger zeigt allerdings nicht die Vorbehalte und Ablehnung gegen eine
eheliche Bindung wie dies bei späteren Protagonisten Hitchcocks oft der Fall ist. So etwa bei Jeff in Das Fenster zum
Hof oder bei Roger in Der unsichtbare Dritte. Hier haben die Männer bereits Eheerfahrung oder sind von tiefem
Misstrauen gegen die Ehe geprägt. Das ist in The Lodger nicht der Fall. Fast könnte man sagen: im Gegenteil. Denn die
zweite männliche Hauptfigur, Joe, von Beruf her damit befasst, Menschen aufzuspüren und festzuhalten, ist auch bemüht, die
geliebte Daisy an sich zu fesseln.
Hitchcock liebt und verehrt den Frauentyp, der in seinen Filmen gezeigt wird. Der übermäßig dicke Mann hatte eine Vorliebe
für unterkühlte blonde Schönheiten. Einige seiner Hauptdarstellerinnen waren Leinwandgöttinnen ihrer Zeit: Ingrid Bergman,
Grace Kelly, Kim Novak, Marlene Dietrich. Als Regisseur ist er ihr Schöpfer: Sie müssen sich nach seinem Geschmack kleiden
und bewegen. Gleichzeitig ist er aber auch ihr Richter, der sie für ihr Selbstbewusstsein, ihre Kühle, ihre Überlegenheit
bestraft. Sie sollen leiden wie er. In The Lodger bewundert der Mieter Daisy bei ihrem Auftritt als Mannequin und
will ihr das elegante Kleid schenken – das dem, welches seine Schwester auf dem Ball an ihrem Todestag trug, sehr
ähnelt. Er will sie – wie Hitchcock – nach seiner Vorstellung kleiden. Hier wird das durch den Vater verhindert.
Auch in späteren Filmen spielt dieses Formen und Gestalten der Frau durch den Geliebten immer wieder eine Rolle, zum Beispiel
in Vertigo (1957).
Auch June Tripp war eine begehrte Darstellerin. Die Figur der Daisy zeigt schon sehr viel der späteren Frauenfiguren bei
Hitchcock: Die sind stets blond, gut aussehend und helfen dem Mann, den sie lieben, aus einer Depression, aus einer
gefährlichen Situation oder verhelfen ihm wenigstens zur Einsicht, dass er sie heiraten sollte. So etwa Lisa in Das
Fenster zum Hof oder Eve in Der unsichtbare Dritte.
Wenn der Lodger Daisy in einer Liebesszene einmal unvermittelt von sich stößt, haben ihn vermutlich seine Schuldgefühle
ganz massiv eingeholt. Draußen geht der Mörder um und er, der Lodger, gibt sich pflichtvergessen seiner Liebe hin. Er ist
an das Versprechen gebunden, das er seiner Mutter gab: den Mörder der Gerechtigkeit zuzuführen. Auch in späteren
Hitchcock-Filmen gibt es die starke Persönlichkeit der Mutter, die auf den längst erwachsenen Sohn großen Einfluss ausübt
bzw. dessen Abhängigkeit liebt und festigt. In Berüchtigt (1945/1946), Der unsichtbare Dritte, Die Vögel
(1962) und natürlich in Psycho (1959/1960) finden wir diese lebenslang (in Psycho noch darüber hinaus)
Einfluss nehmenden Mütter immer wieder. Hitchcocks eigene Mutter war wohl auch solch eine starke Persönlichkeit, die selbst
über den Atlantik hinweg auf ihren Sohn einzuwirken verstand. Spoto beschreibt sie als „dickköpfig“
(Spoto I, S. 258).
Hitchcock zelebriert die Morde gerne und zeigt, wie Frauen gequält werden und leiden müssen. In The Lodger ist das
eher noch verhalten dargestellt. Hier zeigt Hitchcock dem Zuschauer jeweils in Großaufnahme das schreiende Gesicht des
Opfers, nicht jedoch das Opfer im Augenblick des Sterbens oder den Mörder im Rausch der Tat. In späteren Filmen geht
Hitchcock hier – sicher auch in Übereinstimmung damit, was man einem immer abgehärteteren Publikum zumuten kann –
immer weiter und zeigt, wie Frauen gequält werden (Die Vögel), vergewaltigt werden (Marnie), ihre Todesangst,
schließlich ihre hässliche Fratze im Tod (Frenzy).
Für Hitchcock steht immer das Visuelle im Vordergrund. Seine Filme sollen Emotionen beim Zuschauer wecken. Das geschieht
nicht über die Dialoge sondern über das Bild, die Inszenierung, die Montage. Was er vermitteln will, soll nicht den Umweg
über Denken und Kombinieren nehmen, sondern sich unmittelbar aus den Bildern erschließen.
Was sich zwischen den Personen ereignet, wie ihre Beziehungen zueinander sind, sich verändern, welche Spannungen in der Luft
liegen – der Zuschauer erfährt es direkt aus ihren Blicken, ihren Gesten, ihrer Körperhaltung, ihrer räumlichen
Stellung zueinander auf der Leinwand. Diese Kunst führt Hitchcock auch in The Lodger bereits meisterhaft vor. Hier
nimmt der Zuschauer in den Augen des Lodgers, wenn dieser aus einer innerlichen Abwesenheit erwacht, das Gebrochene,
Getriebene seiner Seele wahr. Verstohlene Blicke, ungläubige, verliebte, fordernde, drohende, verzweifelte – sie allein
erzählen über weite Strecken das Geschehen. In späteren Filmen Hitchcocks findet sich diese vor allem im Stummfilm
beheimatete stark expressionistische Seh-Weise nicht mehr. Auch dann schauen seine Protagonisten ausgiebig und intensiv.
Aber sie blicken indiffererenter. Paradebeispiele dafür sind Das Fenster zum Hof und Vertigo. Die zahlreichen
Einstellungen in The Lodger, bei denen die Kamera durch ein Fenster in einen beleuchteten Raum hineinsieht, manchmal
auch noch aus einer ‚versteckten‘ Position heraus durch ein Gitter, suggerieren ‚verbotene‘ Blicke.
Voyeurismus, der heimliche Blick auf fremdes Leben, fasziniert Hitchcock sein Leben lang. Einen Höhepunkt erreicht das Thema
bei ihm in Das Fenster zum Hof.
Fesselungen haben bei Hitchcock immer auch einen sexuellen Hintergrund. Ihn interessiert das Moment der Abhängigkeit und des
Ausgeliefertseins, der unentrinnbaren Nähe. Die gefesselte Frau ist die vom Mann beherrschte Frau. In The Lodger gibt
es drei Fesselungsszenen: das Mädchen auf dem Bild, Daisy mit Handschellen, der Lodger mit Handschellen. In späteren
Hitchcock-Filmen finden wir immer wieder ähnliche Bilder wie etwa das aneinander gekettete Paar in 39 Stufen (1935).
‚Gefesselt‘ im übertragenen Sinne, also gehindert am Handeln, sind seine Protagonisten wie der Lodger oft durch
traumatische Erlebnisse. Jeff in Das Fenster zum Hof ist durch ein Gipsbein an seinen Stuhl ‚gefesselt‘,
Scotties Höhenangst hindert ihn in Vertigo, Madeleine auf den Turm zu folgen.
Hitchcock war immer sehr an innovativen Möglichkeiten des Films interessiert und zeigte sich äußerst kreativ in der Umsetzung
seiner Ideen. In The Lodger hat er das schreiende Gesicht des Opfers mit einer Glasscheibe bedeckt, um die blonden
Locken darauf besonders dekorativ zur Geltung bringen zu können. Das unruhige Auf-und-ab-Gehen des Lodgers in seinem Zimmer
sehen wir ebenfalls durch eine dicke Glasscheibe von unten. Ein weiteres Experiment waren die extrem langen Einstellungen in
Cocktail für eine Leiche (1948) oder der gleichzeitige Vorwärts-Zoom während der Rückwärtsfahrt der Kamera im
Treppenhaus des Turmes in Vertigo, um den Schwindel erfahrbar zu machen.
In The Lodger sehen wir auch Hitchcock selbst in zwei kleinen Auftritten. Während die Nachricht des ersten Mordes
verbreitet wird, sieht man ihn kurz in einer Redaktion sitzen, später ist er bei der Festnahme des Lodgers in der Menge
anwesend. Diese kleinen Auftritte hat er in fast allen seiner späteren Filmen. „Inzwischen ist es ein ziemlich lästiger
Gag geworden. Damit die Leute sich den Film in Ruhe ansehen können, bringe ich es möglichst immer in den ersten fünf Minuten
des Films hinter mich“ (Hitchcock in: Truffaut, S. 44).
Abschließend ist festzustellen, dass Hitchcocks Handschrift in The Lodger schon in sehr vielen Bereichen ausgemacht
werden kann. Grundlegende Methoden und Arbeitsweisen, Überzeugungen und Einstellungen, insbesondere was das Visuelle und
Emotionale anbelangt, sind in The Lodger vorhanden. Seinen Stil hat Hitchcock hier tatsächlich bereits gefunden.
- Spoto, Donald: Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies. Biografie. Hamburg 1984.
Im Text zitiert als: Spoto I
- Spoto, Donald: Alfred Hitchcock und seine Filme. München 1999 (Heyne Filmbibliothek 270).
- Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 2001 (Heyne Sachbuch 19/14).
- Monaco, James: Film verstehen. Reinbek 1995 (Handbuch 6514).
- Patalas, Enno: Alfred Hitchcock. München 1999.