Die Sprache der Hände in Lubitschs 'Alt Heidelberg'


Zurück zur Startseite - Textmosaik

Die Sprache der Hände in Lubitschs
„Alt Heidelberg“

© Christel Baumgart 2023


Lubitsch drehte den Stummfilm „Alt Heidelberg“ 1927 in Heidelberg. Der Geschichte lagen der Roman „Karl Heinrich“ von Wilhelm Meyer-Förster und das Bühnenstück „Alt Heidelberg, du Feine“ vom gleichen Autor zugrunde. Das Drehbuch schrieb Hanns Kräly, mit dem Lubitsch bei zahlreichen seiner Filme zusammenarbeitete. In den Hauptrollen sind Ramón Novarro und Norma Shearer zu sehen.

„Alt Heidelberg“ ist die Geschichte einer Liebe, deren Erfüllung aufgrund der Standesunterschiede der Liebenden (Kronprinz / Nichte eines Gastwirtes) unmöglich ist. Um die Zugehörigkeit von Menschen zu gesellschaftlichen Gruppen geht es in diesem Film. Welches sind die gemeinsamen, welches die trennenden Merkmale? Welche Ordnung beherrscht das jeweilige System? Wer setzt die Grenzen? Wer kann sie übertreten? Was sind die Folgen?

Wo und wie jemand wohnt, wie er sich kleidet, spricht, mit wem er Umgang hat, wie er reist, isst, sich bewegt – all das verrät dem Zuschauer, welche Stellung die Person innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Dazu kommen eine übersteigerte Mimik und Gestik, die im Stummfilm an Stelle von Dialogen als Ausdrucksmittel eingesetzt wurden. So fällt in „Alt Heidelberg“ die Sprache der Hände besonders auf.

Da gibt es zum einen die unbewussten Gesten einzelner Personen. Sie verraten, was sich in ihrem Innern abspielt, und was sie vielleicht vor dem anderen zu verbergen suchen. Oder es gibt die Gesten, die durch Erziehung verinnerlicht wurden und nicht mehr hinterfragt werden. So die stereotypen Gesten des Grüßens und die je nach Vertrautheitsgrad unterschiedlichen des Begrüßens. Daneben dienen die Hände zur Besiegelung von Versprechen.

Die Sprache der Hände erregt oft nicht unmittelbar die Aufmerksamkeit des Zuschauers, trägt aber doch auf einer unbewussteren Ebene des Erlebens stark zur Wirkung auf ihn bei. Meine Untersuchung gilt den drei Hauptbedeutungen: Grüßen und Begrüßen, Versprechen sowie Ausdruck nicht ausgesprochener Gefühle, von der augenfälligsten Erscheinung bis zu den nur angedeuteten, mitschwingenden Bedeutungen.


Grüßen und Begrüßen

In „Alt Heidelberg“ wird ständig gegrüßt, begrüßt oder ein Toast ausgesprochen. Gleich zu Beginn sieht man eine Stammtischrunde gesetzter Herren: Um das überlebensgroße Porträt Karls VII., der zu dieser Stunde in der Stadt erwartet wird, erheben sich die Herren von ihren Stühlen und prosten dem Herrscher mit ihren Bierkrügen zu. Sie tun das mit Ernst und einer gewissen Feierlichkeit. Sie nehmen nur einen kräftigen Zug, um danach das Glas wieder abzusetzen.

In späteren Szenen erleben wir das Einüben dieser Geste mit all seinen Übertreibungen, Auswüchsen, seiner Ausgelassenheit und Fröhlichkeit: Wenn die Heidelberger Studenten im Biergarten von Rüders Gasthof zusammensitzen, heben sie ständig die Gläser, um einander zuzuprosten. Hier dient die Geste als ein verbindendes Element zwischen ihnen: Gemeinsam erhebt man sich, die Gläser werden hochgehoben, den anderen in der Runde zugeschwenkt und gemeinsam leert man sie in einem Zuge. Die Zusammengehörigkeit, die schon durch die studentische Uniform augenfällig ist, wird durch das gemeinsame Auftreten und Handeln verstärkt. Das gleichzeitige Hochreißen der Bierkrüge, das gleichzeitige Leeren bis auf den Grund hat dieselbe Funktion wie das Absingen studentischer Lieder: Man demonstriert Gemeinschaft, Kameradschaft und Stärke.

Student ist Student. Man ist unter sich. Dieses sichere Gefühl gerät zweimal durcheinander. Zum ersten Male passiert das, als Karl Heinrich, den sie freudig als neues Mitglied in die Burschenschaft Saxonia aufgenommen haben, unbefangen seine Identität preisgibt. Nach einem Moment der Erstarrung springen alle auf, nehmen Haltung an und reißen die Studentenkäppis vom Kopf. Karl Heinrich rettet die Situation, indem er überschwänglich den ihm am nächsten Stehenden die Hände schüttelt, sie umarmt und alle fröhlich zu sich heranwinkt, um weiter in der Menge zu baden. Als sie ihn zuvor in seinem Gastzimmer als einen ‚Neuen‘ aufgesucht hatten, mussten sie den sich lachend Wehrenden in ihre Mitte nehmen und mit sanfter körperlicher Gewalt in den Biergarten befördern. Jetzt ist es Karl Heinrich, der diesen körperlichen Kontakt, dieses Eingebettet- und Aufgehobensein in der Gruppe fordert.

Zu diesem Zeitpunkt gelingt ihm das noch ohne Probleme. Als er später jedoch als König zurückkehrt, gibt es keine Gemeinsamkeiten mehr. Die ehemaligen Kameraden sind im Biergarten erschienen, ihn zu begrüßen. Der junge König eilt voll Freude hin und blickt fassungslos auf die militärisch angetretene Gruppe, die zackig grüßt, die Augen geradeaus. Karl Heinrichs Kameradschaftsangebot wird nicht angenommen. Die Freunde von einst stehen stramm und erlauben sich keinerlei Vertraulichkeit. Karl Heinrichs Versuche, durch heftiges Händeschütteln und freundschaftliches Berühren am Oberarm – als Vorstufe einer nicht ausgeführten Umarmung – das alte Verbundenheitsgefühl wiederherzustellen, scheitern vollständig.

Den Kronprinzen konnte man noch leichten Herzens als Freund akzeptiern und als fröhlichen Kameraden behandeln. Er war als Student in der Stadt, als Lernender, als einer, der wie sie noch keine Verantwortung im Staate zu tragen hatte. Die gesellschaftliche Kluft zum König aber ist so gewaltig, dass sie es den ehemaligen Kameraden unmöglich macht, in ihm weiterhin den Freund zu sehen, der er noch vor kurzem war. Karl Heinrichs Versuche, die alte Vertrautheit wiederherzustellen, scheitern am festen Rollenverständnis der anderen. Sie sehen in ihm nicht mehr den ehemaligen Kommilitonen, den Saufbruder und Kameraden.

Für den jungen König ergibt sich erst einmal kein Problem aus seiner hervorgehobenen Stellung. Wie er früher schon allen Menschen offen und freundlich gegenübergetreten war, so will er das jetzt auch weiterhin tun. Die Schranken werden jedoch von unten her aufgebaut. Das gehobene Bürgertum, dem die Studenten angehören, weiß genau um seinen Platz in der Gesellschaftsordnung und ist weder bereit noch fähig, einen Schritt über diese unsichtbare Grenze hinweg zu tun. Der Gruß des Königs kann nur auf eine Art entgegengenommen werden: mit Respekt.

Karl Heinrich muss sich in die neue Situation einfinden. Nach ein paar vergeblichen Versuchen, die alte Vertrautheit wiederherzustellen, ändert er sein Verhalten und zeigt, dass er seine Rolle sehr wohl auszufüllen im Stande ist. Das gipfelt in der knappen Ansprache, in der er mit unbewegter Miene für den ‚warmherzigen‘ Empfang dankt.

Als Karl Heinrich noch ein Student wie die anderen war, da drückte er sogar dem Hausburschen der Saxonia die Hand, als dieser ihm das erste Bier brachte. Kellermann, ein einfacher, alter Mann, zeigt sich von der Geste des Kronprinzen überwältigt. Er geht mit strahlendem Gesicht davon, die rechte Hand, die Karl Heinrich berührt hat, wie einen heiligen Gegenstand vor sich hertragend und dabei von allen Seiten betrachtend. Etwas geradezu Ungeheuerliches ist ihm, dem einfachen Mann aus dem Volke, zugestoßen: So nah, so hautnah ist er dem zukünftigen König gewesen.

Am Ende des Filmes sieht man den frisch vermählten jungen König in der Hochzeitskutsche durch die Stadt fahren. Seine Braut neben ihm ist nur kurz von außen durch das Fenster zu sehen. Das Volk jubelt, winkt und reißt die Hüte hoch. Ein einziges großes Winken findet an den Straßenrändern statt. Karl Heinrich ist unglücklich. Die Frau an seiner Seite ist nicht die Frau, die er liebt. Ein König heiratet standesgemäß. Er bewahrt Haltung, nickt würdevoll und mit einem aufgesetzten Lächeln mal nach links und mal nach rechts den Menschen zu. Er winkt nicht zurück. Das letzte Mal, als er den ehemaligen Freunden die Hand entgegenstreckte, war sie kühl und förmlich ergriffen worden. Karl Heinrich lernt, den ehrfürchtigen Abstand der anderen zu ihm zu akzeptieren.

Die Freunde von einst werden bald den Stammtischbrüdern der Eingangsszene gleichen: Alles ist gemäßigter. Die Gruppe wird kleiner. Man sitzt nicht mehr im Freien. Man leert das Glas nicht mehr in einem Zuge. Man ist nicht mehr so unbescheiden wie in der Jugend: Man lässt weniger einander hochleben als vielmehr den König, der, wie man selbst, eine Verantwortung – die höchste im Staate – hat. Die Gesten werden knapper. Es reicht unter Umständen sogar, lediglich das Bild des Königs zu grüßen. Auf den Plätzen und an den Straßen steht noch genug Jubelvolk.

Als der alte König Karl zu Beginn des Filmes durch die Stadt reist, findet eine wahre Grüß- und Ehrerbietungsorgie des Volkes für seinen jetzigen und seinen zukünftigen Herrscher statt. Die ganze Stadt steht Kopf, als König Karl zum Bahnhof kommt, um seinen Neffen zu empfangen. An allen Fenstern und Türen und an den Straßen stehen die, die eigentlich gerade ihrer Arbeit nachgehen sollten, und verbeugen sich freudig und ehrerbietig vor dem Vorüberfahrenden. Auf allen Plätzen der Stadt sind große Mengen besserer Herren versammelt, die wie auf Komando zur gleichen Zeit die Zylinder ziehen, wenn sich die Kutsche des Königs mit ihnen auf gleicher Höhe befindet. Militär ist angetreten und grüßt zackig.

Der König grüßt aus seiner Kutsche in souveräner, lang geübter Tradition zurück; rechte Hand an die Schläfe, kurz, ernst, etwas gelangweilt, so wie es jemandem zusteht, der diese Pflicht gleichsam neben einer Unzahl sehr viel bedeutenderer wahrzunehmen hat.

Während die Untertanen den Herrscher sehen wollen, geht sein Blick niemals in die Menge. Er schaut geradeaus, als seien da nicht Menschenmassen angetreten, die ihm ihre Ergebenheit zeigen wollen. Sein Kontakt zur Menge besteht lediglich in dem gleichförmig wiederholten, etwas nachlässig ausgeführten Führen der Hand an die Schläfe.

Persönlicher zeigt er sich erst bei der Begrüßung seines Neffen. Er grüßt den ängstlichen Jungen, der dicht bei seiner Gouvernante stehen bleibt und nicht näher kommen will, mit der gleichen Geste, mit der er zuvor seine Untertanen grüßte. Dem Jungen aber blickt er aufmerksam in die Augen.

Das wenig mannhafte Gebaren des Kindes, das erschreckt vor den Salutschüssen, die zu seinem Empfang abgeschossen werden, zur Gouvernante flüchtet, verärgert den König. Er vergräbt beide Hände tief in den Manteltaschen und drückt damit aus, dass der nächste Schritt von dem Jungen zu kommen hat. Als Karl Heinrich endlich, auf freundliches Zureden der Gouvernante zu ihm geht und eine rasche Verbeugung macht, reicht der König ihm die Hand und schüttelt sie ausgiebig. Während er einige ernste, wohlmeinende Willkommensworte zu dem Kind spricht, hält er dessen Hand fest, um die Aufmerksamkeit des Jungen zu behalten.

Dass er ihn richtig eingeschätzt hat, zeigt sich, nachdem er ihn losgelassen hat: Sofort will der Junge zur Gouvernante zurücklaufen. Aber der König packt ihn mit fester Hand am Kragen seiner Matrosenbluse. Eine Geste, die zeigt, dass er kein Zurück mehr für das Kind in die Welt des Mütterlichen zulassen wird. Er nimmt ihn bei der Hand und führt den sich ständig Umblickenden mit sich hinweg. Das herrische Festhalten der Kinderhand lässt im Zuschauer das unangenehme Gefühl aufkommen, das einen überfällt, wenn jemand ihm gegen seinen Willen etwas Gutes tun oder einreden will.

Der Zuschauer erfährt nichts von all dem, was der König zu dem Jungen sagt. Er spricht zu ihm mit Strenge aber auch mit einem verhaltenen Wohlwollen. Mit dem entschiedenen Griff nach der Bluse des Kindes und der Art, wie er ihn mit fester Hand mit sich fortführt, wird aber auch eindeutig klar: Karl Heinrich gehört von nun an in eine streng regulierte Welt, in der Frauen, Mütter und Weibliches keinen Platz mehr haben. Er wird in eine Männerwelt hineingeführt und wird lernen müssen, Pflichten zu haben, Verantwortung zu tragen und zu gehorchen. Er hat einen König, der ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen gedenkt und ihn zu seinem würdigen Nachfolger erziehen lassen will.

Wenig später kommt es zur ersten Begegnung zwischen Karl Heinrich und Dr. Jüttner. Der Knabe nimmt zuerst keine weitere Notiz von dem Herrn, den ihm der König als seinen zukünftigen Erzieher vorstellt, hat der Junge doch gerade seine geliebte Gouvernante abreisen sehen. Er wirft Jüttner nur einen schrägen Blick über die Schulter zu. Erst auf die ärgerliche Aufforderung des Königs hin begrüßt er ihn mit einer zackigen Verbeugung.

Nachdem der König die beiden miteinander allein gelassen hat, stehen sie wie ein künftiges Liebespaar nebeneinander, das nicht weiß, wie der erste Schritt aufeinander zu erfolgen soll. Jüttner ist voller freundlicher Erwartung, er möchte das Herz des Knaben gewinnen. Karl Heinrich, der soeben die anscheinend wichtigste Person seines bisherigen Lebens, seine Gouvernante, verloren hat, und der dem gestrengen Onkel gegenüber keine Schwäche zeigen will und darf – gerade erst wurde er belehrt: Ein Prinz weint niemals – fühlt sich alleine und sehnt sich nach einem Menschen, der ihn in den Arm nimmt. Als Jüttner ihm schließlich als erster die Hand hinstreckt, ergreift er sie rasch. Karl Heinrich will einen Diener machen, was Jüttner durch einen Griff an dessen Oberarm vereitelt. Nach ein paar freundschaftlichen Worten legt er dem Jungen den Arm um die Schulter, und damit ist das zukünftige vertrauensvolle Verhältnis der beiden schon besiegelt.

Als Karl Heinrich sein Studium in Heidelberg antreten will und zu dem Gasthaus gelangt, das – der Zuschauer kann es nur vermuten – Jüttner ausgewählt hat, kommt es zu einer langen Begrüßungsszene mit dem Wirt und den Bediensteten des Hauses, zu denen auch Kathi, seine spätere Geliebte, gehört. Sie überreicht ihm einen Blumenstrauß und sagt ein Gedicht auf. Dabei verliert sie den Faden, was sie jedoch nicht in Verlegenheit bringt. Das Verhältnis der beiden ist von Anfang an von gegenseitigem freundlichen Interesse bestimmt. Die Begrüßung verläuft heiter. Man reicht sich die Hand. Kathi ist von ihm als Mann angetan, sie sieht ihn sich von allen Seiten wohlgefällig an. Sie hat ein gesundes Selbstverständnis und lässt vordergründig den Standesunterschieden nur einen geringen Wert zukommen, wodurch die Begrüßung zwischen den beiden locker und normal verläuft.


Versprechen

In „Alt Heidelberg“ wird eine ganze Reihe von Versprechen gegeben, auch ohne dass sie ausgesprochen werden. Fast alle gibt Karl Heinrich. Nicht alle werden gehalten.

Das erste Versprechen gibt der Knabe dem König gleich am ersten Tage, als die Gouvernante abgereist ist und er sich mit Tränen in den Augen plötzlich dem Onkel gegenüber sieht. Er vernimmt die Worte: „Ein Prinz weint niemals“ und wischt sich die Tränen tapfer mit seinen erdverschmierten Händen ab, mit denen er kurz zuvor noch voller Langeweile und Frustration Grasbüschel aus der Schlosswiese ausgerissen hat. Der König hält ihm wohlwollend die Hand hin, von Mann zu Mann sozusagen, und der Junge reinigt seine rechte, indem er sie schnell am Hosenboden seines weißen Matrosenanzugs reibt, bevor er sie dem Onkel reicht. Danach blickt er den König mit wild entschlossenem Blick an, und man glaubt ihm sofort, dass er nie wieder zu weinen gedenkt.

Das nächste Versprechen gibt Karl Heinrich im Überschwang seiner Gefühle zwei studentischen Freunden: „Es ist wunderbar, Freunde wie Euch zu haben! Unsere Freundschaft soll bestehen, solange wir leben!“ Zum Versprechen gehört die Umarmung, das herzhafte Händeschütteln. Die Freundschaft hält, solange Karl Heinrichs erster Aufenthalt in Heidelberg währt. Bei seiner Rückkehr als König ist in seiner Vorstellung noch alles wie es immer war und bleiben sollte. Er geht auf die Freunde von damals herzlich zu und trifft ergebene Untertanen an. Die Mauer zwischen ihnen wird, wie schon zuvor gesagt, von ‚unten‘ her errichtet. Für den jungen König ist es eine bittere Erfahrung, dass er plötzlich wie eine andere Person wahrgenommen wird und an alte Versprechen nicht mehr gebunden scheint. Das Freundschaftsversprechen hat keinen Wert mehr, wo die entsprechenden Berührungspunkte der gesellschaftlichen Klassen abhanden gekommen sind. Die Freunde von einst sind ihm in Treue ergeben, aber ihre Persönlichkeit, ihr privates Gesicht, zeigen sie ihm nicht mehr.

Karl Heinrichs ausgestreckte Hand geht nicht ins Leere. Doch wird sie nicht mit Wärme umfasst und gehalten, sondern zum Gruß nach Vorschrift ergriffen und keinen Augenblick länger gehalten, als es angebracht ist. Die Kameraden von einst lassen ihn hochleben, stimmen noch einmal die alten Lieder für ihn an, aber es ist nur mehr eine Formsache, eine Tradition, eine leere Geste. Die Käppis werden nicht mehr hochgerissen, die alte Leidenschaft ist dahin. Man nimmt sie ehrerbietig ab, das war's. Die Bierkrüge werden weiterhin emporgehoben. Nur nicht mehr mit soviel Übermut wie damals. Und man leert sie auch nicht mehr in einem Zuge. Das ist etwas für junge Männer, die es noch nötig haben, sich etwas zu beweisen. Aus diesem Alter sind sie heraus. Sie geben sich seriös und gesittet. Karl Heinrich kann sein Versprechen der lebenslangen Freundschaft nicht halten, da keiner der alten Freunde es noch haben will.

Während einer Bootsfahrt, bei der der alte Kellermann, der Hausbursche des Studentenkorps, rudert, setzt sich der Alte so, dass er dem verliebten Pärchen den Rücken zuwendet. Kathi und Heinrich sind überglücklich. Sie haben die Hände ineinander geschlungen, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Karl Heinrich freut sich so über den verständnisvollen Alten, dass er ihm verspricht, ihn, wenn er einmal König ist, zu seinem Majordomus zu machen. Als er anhebt, Kathi zu sagen, was er aus ihr einmal machen möchte: „Und dich mache ich zu meiner –“, unterbricht sie ihn, um ihm ein Versprechen zu ersparen, von dem sie beide wissen, dass er es nicht halten können wird.

Mit der Unmöglichkeit einer Ehe wird ihnen auch die Unmöglichkeit ihrer Situation klar. Die Stimmung landet auf dem absoluten Tiefpunkt. Sie rücken voneinander ab, ziehen die Hände zurück. Als sie wieder ans Ufer gelangen, ist er ihr beim Aussteigen behilflich wie er das bei jeder beliebigen Frau wäre: mit höflicher Distanz. Beide vermeiden ängstlich jede Andeutung von Zärtlichkeit. Im raschen Heimwärtsgehen scheinen sie doch innerlich erstarrt zu sein. Sie gehen nebeneinander her zum Wirtshaus zurück. Kathi hält die Arme wie zum Schutze vor der Brust oder versteckt die Hände in den Schürzentaschen. Kathi bewahrt Karl Heinrich vor dem Eheversprechen. Sie weiß, dass er nicht frei über seine Zukunft entscheiden kann und möchte ihn nicht unglücklich machen wegen eines nicht eingehaltenen Versprechens.

Der alte Kellermann erinnert sich später sehr wohl an die Worte des Kronprinzen und will den jungen König eines Tages in dessen Schloss aufsuchen, im Vertrauen auf das gegebene Versprechen. Durch das Gittertor des Schlossparkes versucht er, vier Herren mit Zylindern, die sich im Park ergehen, mit Zurufen auf joviale Weise und Winken zu sich heranzuholen, damit diese ihn einlassen. Auf solche Gesten reagieren die Herren allerdings nicht. Stattdessen erscheint plötzlich ein Wächter, der auf seine Erklärung, er sei ein alter Freund des Königs, zuerst den Kopf schüttelt, dann mit der Hand vor Kellermanns Brust abwehrend fuchtelt und mit dem Daumen barsch in die Richtung weist, in welche er verschwinden soll. Der Zuschauer erkennt: Der Wächter ist es gewohnt, Gestalten wie Kellermann aus der Nähe des Schlosses zu vetreiben. Vor solchen Typen hat er keinerlei Respekt.

Als dann ein Bediensteter Karl Heinrichs in dessen Auftrag hinunter eilt, um Kellermann doch noch ins Schloss zu holen, macht dieser sich beim Passieren des Tores einen Spaß daraus, den Wächter durch höfliches Lüpfen seines Zylinders zu grüßen, was der mit einem zögernden Gruß erwidert. Den vier Herren im Zylinder tuschelt Karl Heinrichs Bediensteter wohl rasch zu, es handele sich um einen Freund des Königs – jedenfalls ziehen sie nun rasch ihre Zylinder vor Kellermann. An diesem Spiel findet der Hausbursche Gefallen: Im Gehen wendet er sich noch zweimal um und grüßt die Herren, die notgedrungen, der Etikette folgend, marionettenhaft ebenfalls die Hüte ziehen. Während sie sich zuvor weigerten, auf den Zuruf und das Winken eines einfachen Mannes zu reagieren (auch wenn er sich herausgeputzt hatte), ziehen sie vor ihm als einem ‚alten Freund des Königs‘ ihre Zylinder, so oft er dieses Spielchen mit ihnen zu treiben beliebt.

Kellermann kommt, um Karl Heinrich sein Versprechen einlösen zu lassen, das dieser ihm während der Bootsfahrt gegeben hatte. Er tut das mit einer Selbstverständlichkeit, die seiner Naivität entspringt und seinem Vertrauen Karl Heinrich gegenüber, den er als Menschen kennengelernt hat und in dem er auch weiterhin zuerst den Menschen sieht. Die Standesunterschiede sind für Kellermann nicht das Wesentliche in seiner Beziehung zu Karl Heinrich, so wie sie es auch für den Kronprinzen nie waren. Der König kann aus persönlichen Gründen Entscheidungen treffen, die seinem Hofstaat willkürlich vorkommen müssen. Er kann einen Hausburschen empfangen und ihn eigenhändig bedienen. Aber er kann nicht die Frau heiraten, die er liebt, wenn das den Staatsgeschäften zuwiderläuft. Ob er sein Versprechen Kellermann gegenüber einlöst und ihn zum Majordomus macht, erfahren die Zuschauer nicht.

Das wichtigste Versprechen im Film ist das, welches Karl Heinrich dem Onkel auf dessen Sterbebett gibt. Der Prinz ist angereist im Glauben, den kranken König nur kurzzeitig vertreten zu müssen, um danach umgehend wieder nach Heidelberg zu Kathi zurückreisen zu können. Er findet den König schlafend vor und setzt sich zu ihm ans Bett. Der König erwacht und reicht ihm die Hand. Die Bewegung geht über in ein Heranziehen Karl Heinrichs an die Brust des Kranken. König Karl hält seine Hand auf Karl Heinrichs Kopf mit einer segnenden Gebärde. Der Prinz küsst die linke Hand des Onkels, mit der dieser seine rechte festhält. Als Karl Heinrich sich wieder aufrichtet, hält der König mit beiden Händen dessen rechte Hand fest und spricht über die beabsichtigte Verbindung des Prinzen mit Prinzessin Ilse. Karl Heinrich versteht plötzlich, was mit ihm passieren soll. Er beschwört den Onkel mit gefalteten Händen und wendet sich schließlich verzweifelt ab. Von der ausgestreckten schwachen Hand des Königs ragen nur die Fingerspitzen in das leere Bild hinein.

Eine Reihe königlicher Berater, alles ältere Herren, redet beschwörend auf den Prinzen ein. Zwei von ihnen haken ihn schließlich wie eine hilflose Person unter und führen ihn zurück an das Bett des Onkels, dieses Mal auf die andere Seite. In Großaufnahme sehen wir jetzt die linke Hand des Königs, die dieser dem Neffen entgegenhält. Sie ist erwartungsvoll geöffnet wie eine Schale, in die das Versprechen gelegt werden soll. Mit der Darbietung der Innenseite der Hand legt der König auch seine Schwäche und Verletzlichkeit im Angesicht des Todes vertrauensvoll vor die Augen seines Nachfolgers. Karl Heinrich legt seine Hand kraftlos in die des Onkels. Es ist augenscheinlich, dass er dies nicht aus Überzeugung und aus freien Stücken heraus tut. Der König legt seine rechte Hand, die mit dem Ring, wie zur Besiegelung darauf. Als Karl Heinrich sich das Ganze nach wenigen Minuten noch einmal überlegt hat, geht er mit entschlossenem Schritt zurück in das Krankenzimmer. Der Zuschauer weiß: Er will, dass der Onkel ihn von dem Versprechen wieder entbinde. Aber der König ist inzwischen gestorben. Nichts kann zurückgenommen werden. Wenn Karl Heinrich später nach quälendem Zögern und Gewissensbissen das Hochzeitsprotokoll unterschreibt, geschieht dies wiederum nur unter sanftem Druck: Sein Kanzler steckt ihm schließlich den Füllfederhalter mit Nachdruck in die Hand. Mit der Unterschrift kommt es zur Wiederholung, zur Besiegelung des Versprechens.


Die ‚unbewussten‘ Gesten

Wenn Karl Heinrich verzweifelt oder ratlos erscheint, so äußert sich das bei ihm wie bei anderen Personen in Lubitschs Film auch: Er rauft sich die Haare, birgt das Gesicht in den Händen, ringt die Hände, umklammert die Armlehnen seinen Stuhles.

Kleinere Verlegenheiten oder Unsicherheiten lassen die Personen kurz innehalten und versuchen, die Welt um sie herum in Ordnung zu bringen. So wischt sich der kleine Karl Heinrich schnell die eine Hand sauber, die er gleich dem König geben muss. Kellermann holt sein zerknittertes Taschentuch heraus, weil er dem Kronprinzen seine schmutzige Hand nicht zumuten will. Kathi wendet sich an Dr. Jüttner, den sie richtig als den warmherzigsten und unkompliziertesten Menschen aus der Umgebung des Prinzen einschätzt, um den Herrschaften die Qualität der Gastzimmer anzupreisen. Ihre Hände verselbstständigen sich in dieser schwierigen Situation: Sie wischen dem verblüfften Jüttner nebenbei etwas Staub vom Revers. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Tätigkeit zu ihrem Wesen gehört. Wenn sie kurz darauf das Gastzimmer vorführt, weist sie mit ausgestrecktem Arm auf verschiedene Einrichtungsgegenstände, preist deren Vorzüge an und streicht immer wieder irgendwelche unsichtbaren Falten des Bettzeugs oder Tischtuches glatt. Sie ist die ordnende, reinliche junge Frau. Sie hilft Karl Heinrich aus der Reisekleidung und packt später seine Tasche, als er wieder abreisen muss. Ihre Hände fangen stets sofort mit dem Notwendigen an. Sie sind immer tätig. In der großen Anspannung, als der Abschied bevorsteht, tun sie etwas Sinnloses: Sie drehen an den Knöpfen ihres Kleides.

Sonst werden Kathis Hände passiv, wenn sie nicht mehr ein noch aus weiß. Nach der Szene im Boot verbirgt sie eine Hand in der Schürzentasche oder unter der Schürze. Die andere hält sie schützend vor die Brust. Dieselbe erstarrte Haltung zeigt sie, als sie später Jüttners Grab aufsucht und noch immer keine Nachricht von Karl Heinrich hat.

Eine wichtige Bedeutung kommt dem Kuchen zu, den Kathi zur Begrüßung des Prinzen gebacken hat. Als Karl Heinrich alleine ist und sich dieses Kuchens besinnt, sehen wir in einer der ganz wenigen Großaufnahmen des Filmes, wie er sich zögernd, als nähere er sich einer verbotenen Frucht, ein ganz schmales Stück herausschneidet und – auf den Geschmack gekommen – noch ein dickes Stück anschließend. Der Kuchen Heidelberg oder der Kuchen Kathi – wie man es sehen will: Karl Heinrich ist in eine neue Welt eingetreten. Er beginnt, davon zu kosten, vorsichtig. Und er hat bereits Appetit auf mehr bekommen. Mit seinem Schritt hat er aber auch eine bisher heile Sache verletzt und einen nicht mehr umkehrbaren Schritt getan.

Als Karl Heinrich dem sterbenden Onkel das Versprechen gegeben hat und danach wie in einem bösen Traum gefangen das Zimmer verlässt, fällt eine eigenartige Unstimmigkeit in seinen Bewegungen auf: Beim Gehen hängen die Arme steif herab, die Handrücken sind nach vorne gekehrt wie wir es bei den strammstehenden Soldaten gesehen haben. Die Arme schwingen beim Gehen leicht mit, aber nicht wie es sich normalerweise von alleine ergibt: abwechselnd ein Arm nach vorne und einer nach hinten. Karl Heinrichs Arme bewegen sich wie zwei Fremdkörper gemeinsam vorwärts und zurück beim Gehen. Seine Hände haben eben ein ungeheuerliches Versprechen gegeben. Sie scheinen nicht mehr zu ihm zu gehören. Diese Hände und Arme eines Roboters wissen noch, dass sie zu funktionieren haben, aber sie kennen ihr Programm nicht mehr. Sie sind Ausdruck dafür, dass etwas im Inneren des Prinzen zerbrochen ist.


Die Sprache der Hände

„Alt Heidelberg“ ist ein Film über Standesunterschiede, Traditionen, gesellschaftliche Ordnung und privates Glück. Lubitsch setzt, um den Zuschauern seine Sicht der Dinge zu vermitteln, die Sprache und den Ausdruck der Hände ein. Dies geschieht jedoch nicht vordergründig, sondern eher nebenei, Die Kameraführung rückt die Gestik des Einzelnen nicht in den Mittelpunkt. Nur zweimal sehen wir Hände in Großaufnahme: beim Anschneiden des Kuchens und als König Karl seinem Neffen das Versprechen abnimmt. Beide Szenen sind als Anfang und Ende eines Ausflugs in die verbotene Welt jenseits der Schranken der gesellschaftlichen Klasse zu sehen. Es kommt ihnen damit eine besondere Bedeutung zu.

Die zahlreichen Massenszenen zeigen die Bürger, wie sie ihrem Monarchen oder dem Kronprinzen zujubeln. Hier sind es die vielen gleichförmigen Bewegungen, Winken, Zylinder ziehen, Tücher schwenken, welche die Augen des Zuschauers gefangen nehmen. Nicht die Großaufnahme sondern die Anzahl der Personen, die Reihung in der Bewegung und auch die Wiederholung ähnlicher Szenen lassen Lubitschs Anliegen erkennen.

Der Einsatz der Hände trägt die gesamte Handlung. Die Hände vermitteln nicht nur Erkenntnisse über die Standesunterschiede – wer grüßt wen zuerst? wer winkt wem zu? wer folgt wessen Weisung? – sondern auch über tiefer gehende Beziehungen zwischen einzelnen Personen beziehungsweise über das innere Erleben eines Menschen.


Literatur

- Faulstich, Werner: Die Filminterpretation, Göttingen 1988.
- Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1985.
- Monaco, James: Film verstehen, Reinbek 1995.
- Truffaut, Francois: Er war ein Prinz, in: Filmkritik Bd. 14/1970.


Zurück zur Startseite - Textmosaik